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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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der Bursche ein Gegenstand des Neides. Eben als sie auf die untere Plattform beim Fischmaul-Brunnen kamen, sagte Editha: »Heute vormittag auf dem Graben habe ich einen Menschen gesehen, der mir einen starken Eindruck gemacht hat. Ein Langer, Schlanker, mit fast olivenfarbener Haut, sehr gelassen in den Bewegungen, gescheit ausschauend und etwas melancholisch, wirklich vornehm – er hätte einen orientalischen König abgeben können oder eine Figur von dieser Art. Übrigens fabelhaft angezogen …«
    »In welcher Farbe?« fragte Melzer unvermittelt dazwischen. »Blaßlila, oder mauve, wie man das zu nennen pflegt. Anzug, Hemd und Hut.« (Da konnte man sehen, wie genau ihr zerstreutes Sehen war.) Jetzt unterbrach Stangeler diese Unterbrechung: »Und was weiter, was war mit dem König von Polen am Graben?«
    »Ich habe ihn vielleicht zu auffallend angeblickt – nun, kurz und gut, wie er an mir vorbeikommt, zieht er tief den Hut und verbeugt sich leicht dabei und sagt noch: ›Ich küss' die Hand, Gnädige.‹ Weg war er. Ich habe mich dann umgewandt, er aber nicht. Ich glaube nicht, daß er mich wirklich gekannt hat. Jedenfalls bilde ich mir ein, ihn vorher nie im Leben gesehen zu haben. Das Merkwürdige aber war, daß ich in dem Augenblicke, als er in meiner nächsten Nähe vorbeigegangen ist, lebhaft an Sie gedacht habe, René. Ich bin auch dahinter gekommen, warum: dieser König von Polen hatte anscheinend das gleiche Lavendelwasser benutzt wie Sie.«
    René legte es offenbar darauf an, Melzern gar nicht zu Wort kommen zu lassen (wenigstens schien's diesem so). »Geruch und Gedächtnis! Da gibt's tiefe Beziehungen. Aber sehr richtig ist's, wenn Sie sagen, Sie bilden sich nur ein, jenen Herrn nie vordem gesehen zu haben. Natürlich kennen Sie diesen Menschen, oder Sie kannten ihn einmal, irgendwann und ir gendwo. Aber sind wir denn ein Evidenz-Büro? Das wäre ja schrecklich, wenn jeder ständig ein Wagerl voll von alten Sachen hinter sich dreinzöge. Natürlich haben Sie ihn gekannt, den polnischen König, aber grad' heut' vormittag auf dem Graben, da waren Sie von solchen Kenntnissen frei und verschont – und eben darum hat er Ihnen auch gefallen können. Sie haben ihn ganz neu gesehen. Das Leben hat den Bruch mit allem Gewesenen ständig zur Voraussetzung. Diese Bruchstelle läuft splitternd durch die Zeit, und nur dann gibt es Gegenwart. Jeder wirkliche Entschluß, jede Entscheidung vernichtet die Vergangenheit, nichts Großes wäre sonst jemals geschehen …«
    In diesen Augenblicken erst erkannte Melzer wie sehr zugetan er Stangeler war: anders hätte ihn, was René da trieb, so tief nicht treffen können. Das verräterische Spiel mit Worten und Begriffen, deren keinem die Fälsche fehlte, schien zugleich von einer grausamen Kälte gegen Editha erfüllt, die hier ganz offenbar für einen so hoffnungslosen Fall gehalten wurde, daß anderes ihr zu bieten als diese geradezu unanständigen Bestärkungen ihres Wesens, von René anscheinend gar nicht einmal in Betracht gezogen wurde. Der Major schwieg. Was er hatte vielleicht sagen wollen, war ihm längst entschwunden. Sie schritten indessen, Frau Editha geleitend, schon die Liechtensteinstraße entlang. »Kommt zu mir«, sagte sie, »oder habt Ihr was vor?
    Otto kommt auch. Der würde sich so freuen! Zu essen habe ich reichlich für uns alle. René, Sie bekommen so zwischen achtzehn und zwanzig Liter dunklen Tee.«
    »In diesem Sinne will ich's wagen«, sagte Stangeler. Auch Melzer nahm die Einladung an. Noch hatten sie das Haustor nicht erreicht, als der Rittmeister zu ihnen stieß. »Die zwei Burschen werden mit hinauf genommen, was, Edithchen?!« rief er, »wenn man dies Volk schon mal so beisammen hat, füglich. Munition ist vorhanden.«
    Es verlief dieser Abend für Melzer in einer ständigen Nähe zu jenen zehn Minuten im Frühjahr, während er mit Editha von der Strudlhofstiege, wo Stangeler sich von ihnen getrennt hatte, bis zu ihrem Haustor hier hinter dem Franz-JosefsBahnhof gegangen war: nichts, gar nichts. Die beleuchtete Uhr, der Mondschein, die fernen Lichter des Kahlenberg-Hotels, der silbrig-gehobene Hügelschwung dort draußen. Hier saßen sie in dem weißlackierten Zimmer mit den beiden hohen Flügeltüren, die noch höher schienen, durch ebenfalls weißlackierte Supraporten mit irgendwelchen Weintrauben und Engeln. Und während man mit dem improvisierten und abwechslungsreichen Abendessen beschäftigt war – Melzer hatte zuletzt auf der

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