Die Strudlhofstiege
Straße schon einigen Hunger verspürt – ebnete sich alles sozusagen wieder ein, verlor sich der verengte Weg oder schmale Pfad zwischen den so lebhaft empfundenen Widersprüchen bald in's Hügelland gewohnter Reden und Handreichungen, Gespräch und Gelächter. Allein die Aussicht hier, mit der Abendsonne, mit Burg und Berg dort drüben, bot sich ständig weiter an als ein Hintergrund, vor den jedoch nichts mehr trat, und der bald in Dämmerung versank.
Der Rittmeister, erst so wohl gelaunt, trank stark im weiteren Verlaufe des Abends. Dabei fiel seine Stimmung in einer Art von Sturzkurve ab. Er wurde schweigsam, ein wenig steif, nahm das Monokel in's Auge. Beim Weggehen trennte er sich auf der Straße alsbald von Melzer und René, wenn auch mit herzhaftem Händedruck, aber sie hatten dadurch keine Gele genheit, ihn bis an's Haustor zu begleiten, was in jedem Sinne nahe gelegen wäre.
In dieser Woche bekam Melzer Editha Schlinger noch einmal zu sehen, wenige Tage später, am Freitag. Er hatte um ein Uhr eben das Amtsgebäude verlassen, um essen zu gehen, als sie auf dem Trottoir ihm rasch entgegen kam, und sichtlich erfreut über die Begegnung. »Ach Melzerich«, sagte sie, »das ist erstens reizend, daß ich Sie treffe, und zweitens hab' ich Glück. Sagen Sie mir nur, ob Sie vielleicht heute nachmittags zufällig noch in die Stadt hineingehen? Und etwa gar in die Gegend am Graben kommen?«
»Haben Sie etwas zu besorgen, Gnädige?« fragte er. »Ja«, sagte sie, »Melzerich, Sie können mich geradezu erlösen. Seit Tagen gelingt es mir nicht, meine Füllfeder zum Reparieren zu geben, immer kommt was dazwischen, auch heute vormittags ist wieder nichts daraus geworden, und am Montag war ich zwar am Graben, aber ohne Feder, ich hatte sie daheim vergessen. Darf ich Ihnen das Ding geben? Ich brauche es schon so dringend, und das Reparieren dauert oft vierzehn Tage.« »Aber gerne«, sagte Melzer, »ich muß heute nach dem Büro auf jeden Fall in die Stadt, wegen kleiner Einkäufe.« Sie entnahm ihrem Täschchen das ziegelrote längliche Lederetui mit der Feder. Melzer geleitete sie noch bis heim, ehe er in's Restaurant ging. »Heute nachmittags habe ich dringend zu tun und morgen auch«, sagte sie, »und da wär' es wieder Montag geworden und die Füllfeder noch immer nicht besorgt. Ein Glück, daß es solche ordentliche Soldaten auf der Welt gibt, die einem etwas von dieser Art verläßlich erledigen, und daß man sie auch zur rechten Zeit trifft. Man begegnet Ihnen immer zur rechten Zeit, Melzerich, oder eigentlich, Sie begegnen einem zur rechten Zeit. Es gibt Menschen, die mit ihren Begegnungen, ich meine mit ihrem jeweiligen Erscheinen, stets das genaue Gegenteil treffen. Sie begegnen uns nicht nur, sondern sie treten uns entgegen. Wenn man dringend jemand anderen erwartet, oder wenn man sich daran gemacht hat, mit Salmiak oder Benzin Glacé-Handschuhe zu putzen, oder wenn man sich in den Finger geschnitten oder eine Tintenflasche umgeworfen hat: dann läutet es, und so jemand steht vor der Türe, arglos, freundlich und harmlos: aber ich glaube ernstlich, daß dahinter eine tiefverborgene, innewohnende Gemeinheit steckt. Denn es besteht kein Zweifel, daß diese Art des Erscheinens gewissen Charakteren eigentümlich ist. Wenn ich's bei jemand zwei- bis dreimal beobachte, ist der Betreffende für mich erledigt. Denn es gibt andere, die stets zur guten Stunde und rechten Zeit da sind und klingeln, und wie bringen denn die das fertig? Und manche, leider, klingeln nie und stehen nie da draußen vor der Türe.«
Aber jetzt, in diesen Augenblicken, während neuerlich, wie hinter einer Ecke hervor und überraschend, eine bei aller Bescheidenheit nicht wegzuleugnende Aufforderung am Schluß ihrer Rede ihn ansprang, wölbte sich doch eine furchtbare Spannung in Melzer auf, bauchten wirklich die Wände, knackten die Riegel. Sie gingen das letzte Stück des Gehsteigs bis zum Haustor, und der leichte Wind, der an diesem verhältnismäßig kühlen Tage wehte, wurde von Melzer nahezu als kalt empfunden, und als sei er selbst wie ein heißer Gegenstand davon umspielt. Er überwand den Ansturm nicht ganz. Beim Abschiede hielt er länger ihre Hand und sein Kuß darauf hatte einen winzigen Nachdruck, der bei solchen Gelegenheiten weder üblich noch automatisch ist.
Des Nachmittages, um vier Uhr etwa, stieg der Sektionsrat Georg von Geyrenhoff das herrliche Stiegenhaus im Palais des Prinzen Eugen von Savoyen (wo heute noch das
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