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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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Unfähigkeit zur Übersetzung – nahm er ihre rechte Hand, küßte sie, und sah Paula durch einen Augenblick traurig an. Das latente Genie Lina neben ihnen, gänzlich weghörend, hatte nichts von dem Gesagten mehr vernommen. »Am End' ist alles wieder einfach«, ließ sich Paula jetzt hören, »aber wenn man das von Anfang an glaubt, dann bleibt man ein Tepp.« Die Erleichterung Renés war außerordentlich nach diesen ihren Worten, er vermeinte jetzt ernstlich, doch nicht ganz vorbeigeschossen zu haben. Paula fragte weiterhin nach Editha. »Die gibt es sozusagen in Wirklichkeit gar nicht«, antwortete Stangeler unter anderem ernsthaft, »sie ist nur ein Gespenst, eine Art Traum, eine Einbildung. Ich glaube, daß Melzer sich vor ihr sehr fürchtet. Möglich, daß sie in ihn verliebt ist.« »Zurücktreten, Achtung!« riefen die Bahnbeamten.
    Schon waren die toten, leeren Gleise, schon war der Boden belebt vom Donner des hereinfahrenden Zuges, der zunächst nur aus der Riesenhöhe der Maschine zu bestehen schien, und, wie das dem technischen Laien immer erscheint, mit einer noch beängstigenden Geschwindigkeit in die Halle glitt. Und wenige Meter erst vor den Prellböcken der Stirnwand wurden die ausgeübte Herrschaft über das Untier und dessen völliger Gehorsam sichtbar. Der Wurm stand. Und jetzt ganz bürgerlich, sozusagen im Zimmer.
    Alsbald entquoll dem Zuge bei vielen geöffneten Waggontüren sein Inhalt, und Stangeler vereinte die suchende Aufmerksamkeit des Blickes, der sich in Dutzende fremder Gesichter rasch nacheinander drängt, um lieblos davon abzugleiten, weil sie das erwartete nicht abgeben wollen, mit der gleichen Bemühung der beiden Frauen. Sie hatten sich in einer nicht eben sehr geeigneten Weise postiert und im Gespräche befangen diesem Umstände kaum die nötige Aufmerksamkeit geschenkt (während bei einem Genie in Latenz bekanntlich Taktfragen allem anderen nicht selten vorangehen, und so war von unserem hier vermieden worden, die Unterredung zu stören durch den Hinweis, daß man sich zu weit vom Ausgange entfernt und damit der Möglichkeit genähert hatte, Thea unbemerkt durch diesen passieren zu lassen). Die Flut der abströmenden Reisenden wurde dichter, und schon verlor man die Übersicht. Aber eben in dem Augenblick, als Paula Pichlers sonore und gleichsam herbstlich angegoldete Stimme zu hören war, die »Thea, Thea!« rief und man die Angerufene und laut Antwortende jetzt auch selbst erblicken konnte, wie sie einem Waggon entkletterte: gerade da erkannte René jemand ganz anderen unter den Reisenden, welche den Zug verließen, jemand, den er als Eintreffenden und Ankommenden keineswegs erwartet hatte, nämlich Editha Schlinger. Sie wurde gleich danach von einer entgegeneilenden Dame umarmt. Und nun taten beide, nach kurzem Aufenthalt mit dem Gepäckträger sich herumwendend, die ersten Schritte, um in den Strom der übrigen Reisenden einzutauchen und sich von diesem gegen den Ausgang schieben zu lassen. Damit wurden sie für René weniger gut sichtbar, als sie's beim Waggon gewesen waren und während der paar Meter über ein leeres Geleise zum Bahnsteig, wo die Menge sich staute. Aber jene Distanz und eine durch Augen blicke, da gerade niemand dazwischenlief, ganz freie Sicht auf dieses Paar, warfen Stangeler gleich einem Stein in der Form eines unabweisbaren optischen Eindruckes die Tatsache an den Kopf, daß Editha Schlinger-Pastré dort schlichthin zweimal ging, doppelt, daß die Umarmte und die Umarmende ein und dieselbe Person waren, welche in zwei auseinanderzuhalten man erst kleine Verschiedenheiten einer im ganzen ähnlichen Kleidung hätte aufsuchen müssen, wozu hier keine Zeit blieb. Er kniff die Lider zusammen und öffnete sie rasch wieder, er schüttelte sogar den Kopf, wie um die Augen darin zurecht zu beuteln: jetzt entzogen sich die gedoppelten Damen seiner Sicht, wenngleich sie sich ihm dabei nähern mußten, gegen den Ausgang zu: und schon hatte er sie für Augenblicke in der Menge wieder entdeckt, zwei Gesichter zweier Köpfe, die er bisher nur als eines gekannt.
    Indessen war Thea heran, hatte Paula umarmt und Lintschi begrüßt; und auch René, den die Rokitzer hier mit dabei zu finden vielleicht etwas erstaunt war, mußte sich ihr zuwenden. Sie erschien ihm sehr schön, er stellte das außenstehend fest, ohne sich angezogen zu fühlen: das Antlitz war blühend, das Auge wie frisches Wasser, in welches die Sonne scheint. Paula Pichler konnte sich nicht genug tun in

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