Die Strudlhofstiege
war zu jener Zeit wenig Anlaß gewesen. Hier, auf der verhältnismäßig schon breiteren Talsohle, hatte man sich selten bewegt, es sei denn, um einmal die Familie von W. zu besuchen, deren Anwesen dem unteren Gasthofe gerade gegenüber lag. Als er den Wirtsgarten verließ, bot sich Melzern um die Ecke ein breiter Weg im Grünen, und er folgte ihm, denn Zeit blieb noch genug zu einem kleinen Spaziergange. Ein Brücklein führte bald über den stark rauschenden Bach, und jenseits ward die Richtung gekreuzt von einer ebenen Promenade mit Bänken, alles meist im Schatten, unter überhängenden Ästen und Gesträuch, denn vom Wege an stieg die Berglehne wieder steil. Für Melzer war das eine Art Entdeckung, es paßte gewissermaßen nicht in die Gegend und in die Urtümlichkeit der Hochwälder und steilen Leiten, sondern war ein hierher verschlagener Bestandteil viel stadtnäherer Sommerfrischen samt ihrem wehmütigen Reiz, sonderlich in den ersten schon herbstlich oder mindest nachsommerlich angewehten Tagen; und wirklich, aus den Gärten links und rechts des Wegs war der Duft von vielen künstlich gezogenen Blumen gekommen, gekreuzt mit dem würzigen Geruche der Küchenkräuter, und dort drüben, richtig, zwischen schmalen gekiesten Pfaden, standen die bunten Glaskugeln auf Stäben im späten Rosenboskett: das Haus dahinter halb verborgen im ebenen tiefgrasigen Garten, verdeckt von den Kronen der Obstbäume, aber man konnte die altmodischen, braunen, ausgetrockneten Holzveranden sehen und in ihrer Verglasung lag die Sonne.
Melzer ließ sich auf eine Bank nieder, sah in den rauschenden Bach und in die Sonnenkringel und sank durch Sekunden hier gleichsam tief ein. Aber bald wurde es Zeit zu gehen. Er folgte dem Wege nach aufwärts und gelangte wieder auf die Dorfstraße, und mit angenehmer Überraschung gerade beim Postamte. Aus diesem kam denn auch unverzüglich Asta hervor, Briefe und Zeitungen in der Tasche ihrer Jacke. Zwischen ihnen beiden, das fühlt' er deutlich, mußt' es nun immer stimmen, ging alles mühelos.
»Wie machen wir's jetzt, Melzer?« sagte sie. »Ich will nämlich den Robby Fraunholzer sehen und allein sprechen, bevor wir zu dritt hinaufgehen. Nach allem, was gestern sich abgespielt hat, scheint mir das ratsam, ja erforderlich. Kann sein, daß sich sogar mehr abgespielt hat, als wir wissen. Sein Ver schwundensein am Schlüsse war mir jedenfalls höchst verdächtig.«
Melzer deutete auf den Promenaden-Weg, über welchen er eben gekommen war. »Am besten ist es so«, meinte er, »ich setze mich dort auf eine Bank, bei der kleinen Brücke, und Sie kommen dann mit dem Generalkonsul vom Hotel herüber. Es gibt da einen direkten Weg zwischen den Gärten, ich bin ihn heute morgens gegangen, den kennen Sie doch sicher.« »Ja, natürlich«, sagte sie. Dabei blieb's also, sie gaben einander die Hand. »Wird vielleicht etwas länger dauern, Melzer«, bemerkte Asta noch. »Macht nichts, macht nichts«, antwortete er und sah ihr, den Kopf vom Handkusse wieder erhebend, in die Augen.
Sie nickten einander herzlich zu.
Melzer kehrte auf seine Bank an der kleinen Promenade zurück.
Schon als er aus der Sonne trat und von der Straße weg wieder auf den schmäleren Weg im grünen Blätterschatten, in dies befremdliche Unterwasser-Licht neben dem rauschenden Wasser, erkannte er, daß seine Erinnerung hier eben vorhin viel weitere Räume zusammengefaßt hatte als ihm bewußt gewesen war: jetzt aber trat dies ein; und der wehmütige Reiz stadtnaher Villen gärten im Nachsommer lag nun gesammelt mit warmer Sonne auf dem noch morgenfeuchten, ganz leicht dampfig überhauchten Kies und Rasen vor dem Hause seiner Mutter in Neulengbach bei Wien: und so faßte der schleifende Anker des Gedächtnisses plötzlich und unvermutet Grund, und viel weiter weg noch von dem Strande, den Melzer erstrebte, viel weiter weg noch als er gewünscht hatte. Er stand vor der Bank, sah zu Boden, war allein hier, wüßt' es, besaß sein bewußtes Alleinsein und die Distanzen, welche jenes jetzt unverzüglich nach allen Seiten in alle Umwelt schlug, wie ein sichtbar werdendes Rippenwerk, ja, als das wahre Rippenwerk des Lebens. Zum erstenmal aber wurde das seine jetzt wie von einer festen Klammer zusammengehalten, die dort jenseits des eigentlich besetzten und besessenen Raumes schon faßte; denn zu Neulengbach wüßt' er sich einen Untergymnasiasten in den Ferien und sonst war da fast nichts. Also war es das erste Mal, daß er wissentlich so
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