Die Strudlhofstiege
weit und klar zurückgriff: dieser Herbst-Tag vom Ferien-Ende war völlig klar. Eine farbige Kugel im Rosenboskett leuchtet auf. Unter der Veranda aber, in tiefem Schatten und dumpfer Laub-Fäulnis, wo sein Fahrrad steht, neben den Gartenwerkzeugen und ein paar alten Sesseln, ist dasselbe grüne Licht wie hier oder etwa in Astas Zimmerchen. Oder auch auf der Strudlhofstiege. Zeitweis. Wenn nicht gerade die Abendsonne durchbrach. Er sehnte sich plötzlich mit Schmerz danach, den Anker des Gedächtnisses auch in festeren Grund zu senken, nicht nur in den der verlorenen Jahre der Kindheit, die den Umständen so preisgegeben ist, daß sie wie deren Spiegelung erscheint, tiefe Spiegelung, wie hier die Becken des Bachs Gebüsch und Bäume spiegelten, oder das Fenster in der Porzellangasse – alles, nämlich sein ganzes Leben. Darin aber mußte es, noch weiter zurück als nur bis hierher und zu Asta, noch hinter diesem grünen tiefgedämpften Licht in ihrem Zimmerchen, eine Stelle geben, wo die Klammer greifen konnte, zusammenfassend, zusammenhaltend bis auf den heutigen Tag alles was ihm, Melzer, gehörte. Er stand noch immer, hatte vielleicht auch ein paar Schritte getan: aber jetzt hörte er solche auf dem Brücklein und sah hin. Asta kam heran, allein, überraschend bald zurückgekehrt. Während sie sich nä herte, in diesen wenigen Augenblicken, fühlte er ein ganz unkontrolliertes Staunen darüber, daß sie's so ungehindert vermochte, unbehindert von dem Rippenwerk der Distanzen, das jetzt von ihm, Melzer, nach allen Seiten ausging und auch zu ihr einen Abstand gleichsam unverrückbar einspannte.
Sie sah ernst aus. Über der Nasenwurzel stand, ganz leicht angedeutet, eine Vertiefung. Beide ließen sich jetzt nebeneinander auf die Bank nieder. »Der Robby ist abgereist«, sagte sie. »Ich muß einen Brief lesen. Haben Sie ein Messer, Melzer?« Er reichte ihr das seine geöffnet. Es war flach, zwischen matten getriebenen silbernen Schalen, und scharf geschliffen. »Dieses Messer sieht Ihnen ähnlich«, sagte sie, es kurz betrachtend; dann zog sie einen Brief hervor, den sie aber nicht zu der übrigen Post gesteckt hatte, sondern in die andere Jackentasche, und öffnete ihn. Während des Lesens wurde die Vertiefung über ihrer Nase deutlicher. Jetzt reichte sie Melzern wortlos Brief und Messer, beugte sich vor und sah mit auf die Knie gestützten Ellenbogen zu Boden. Melzer las: »Liebe gute Asta! Kaum angekommen, hab' ich mich gestern von meiner völligen Überflüssigkeit hier endgültig überzeugt und bin daher heute früh wieder abgereist, nach Gmunden, zu meiner Frau. So endet, was durch neun Jahre der Inhalt meines Lebens gewesen ist. Grüße Etelka von mir. Ich werde ihr einmal schreiben, aber viel später. Empfiehl mich Deinen Eltern, sag', ich hätte aus Belgrad eine Depesche erhalten und sofort zurückfahren müssen, und entschuldige mich damit, wegen mittags. Es umarmt dich R.«
»Was werden Sie tun?« sagte Melzer nach einer Weile.
»Garnichts«, antwortete Asta. »Und selbstverständlich …« sie zögerte.
»Selbstverständlich …?«
»… werde ich Etelka diesen Brief ohneweiteres zu lesen geben.«
»Es wird auch nichts anderes übrig bleiben«, meinte der Major. Sie erhoben sich von der Bank, um hinaufzugehen.
Dieser Tag auf der Villa: auf Schritt und Tritt war's eine äußere Nähe zu Einzelheiten von ehemals, hier im hellen Sonnenlichte von heute, worin sie gleichsam zusammengedrückt und wie verkleinert standen, ohne jedoch miteinander verbunden zu sein und dem gemeinsamen Fluchtpunkte dort hinten in der Ferne der Zeit entgegenzustreben. Vielmehr blieb's eine Welt ohne Mittelpunkt mit zahlreichen Stücken nebeneinander, ein Museum. Nur auf dem begrünten Tennisplatze schien's Melzern wie von unten her an. Er wartete hier. (Asta war bei Etelka in deren Zimmer oben, um ihr Fraunholzers Brief zu geben.) Unter dieser nun verwachsenen ebenen Fläche fühlte er manches gleichsam schwimmen und treiben wie unter einem Wasserspiegel. Nicht zuletzt Astas Zimmerchen. Plötzlich besaß ihn der Gedanke, daß man der Natur jede Stelle, die man einst bewandelt, alsbald wieder überlassen sollte, daß sie's wieder an sich nähme mit Gras und Kraut und schließlich überwachsendem Gestrüpp und Baum: an sich nähme durch den ewigen Vormarsch des Waldes gegen die zeitliche Rodung, den für uns geheiligten Platz, wo wir unsere letzte Spur gelassen, mit dieser aus der Rodung in den Wald rettend, bevor andere
Weitere Kostenlose Bücher