Die Strudlhofstiege
Gestrige und Heutige von einem suchenden Blicke nicht entreißen. Vielleicht, so fühlte Melzer, war die unheilvolle Vollkommenheit der Situation derart weit in ihr gediehen, daß sie zunächst gar nichts empfand.
Den Kaffee aber nahm man nicht jenseits des Baches auf dem runden, flachen Platze zwischen Bäumen, sondern vor dem Haus in der Sonne an jener Seite wo sich die Anfahrt befand. Hier kam der alte Herr mit Melzer auf Bosnien zu sprechen, ungetaner Werke eingedenk, deren Vorbereitungen der Krieg unterbrochen hatte. Die zivilisatorische Erschließung jenes Landes, zur Gänze eine Tat der alten Monarchie, fiel dann solchen als Erbe zu, die sich darum am wenigsten ein Verdienst erworben hatten: »Jedes gute Bett oder reine Handtuch im Hotel, ein pünktlicher Zugs-Anschluß, ein Zimmer ohne Wanzen oder ein sauberes W. C. – alles das war österreichischer Provenienz«, sagte der Alte. Melzern aber berührte augenblicklich kein Duft aus jener Vorgeschichte seines Lebens, wie er die bosnische Zeit nun zu empfinden begann: ja, sie ragte herüber, ein befremdlich vom heutigen Licht angeschienener Gipfel sonst untergegangenen Gebirgs (fast so, wie der Asta Stangeler nun ihre Freundschaft mit der Pastré erschien!), und hoch drüber nur hielt sich ein einsamer Geier von der Treskavica.
Und also zerfächerte das übrige des Tags, als sei dieser an sich selbst ermüdet, nicht mehr fassungskräftig, überfüllt vom Gestern und Heute. Um fünf Uhr nahm Melzer Abschied. Als er Etelka die Hand küßte und aufsah, war ihr Antlitz unverhüllt anwesend, ohne jede darüber gezogene Schicht: ein großzügiges Gesicht, Intelligenz und Talentiertheit gleichsam aus dem weiten Abstande der Augen sprechend. Fühlte sie jetzt erst, daß Melzer, mit dem sie heute so wenig wie früher Berührungspunkte gefunden hatte (für sie war er immer ein Anhängsel Astas gewesen), ihr wohl wollte und einen verschwiegenen Anteil an ihr nahm? Sie schlug Asta vor, dem Major bis zum Postamt und zum Omnibus das Geleite zu geben; so gingen denn die Frauen mit ihm. Zum ersten Mal war er mit beiden, zum ersten Male mit ihnen zu dritt, ein neues Band schlang sich in diesen wenigen Minuten, während denen, was Melzer freilich nicht wissen konnte, er Etelka zum letzten Male in diesem Leben sah. »Auf Wiedersehen«, riefen sie noch beide, nebeneinander stehend in der bunten Nationaltracht. Und schon wischte der schwere Omnibus um die Kehre der Straße und glitt so rasch bergab durch das zusehends sich verbreiternde Tal, daß er zu fallen schien, während in Melzer dies zuletzt Erlebte, Freundliche, nachklang und fortbestand, aber wie auf steinernem Grunde: von diesem wußte er, und daß man in irgendeiner Weise bis zu ihm hinab noch sinken und dort streifen würde müssen. Er schloß für ein ganz Kurzes die Augen, während das Tal gleichsam unter ihm weg sank durch die Schnelligkeit des Gefährts. Und jetzt schien ihm ein tiefes Rot herauf zu schlagen an den inneren Lidern, eine erschreckende Farbe, wie Wunden oder frisches Blut.
Mit dem Kriege aber hatte das nichts zu tun, das erkannte er jetzt bewußt und erstaunt, und auch nicht mit dem Blute des in seinen Armen sterbenden Obersten Laska, das ihn überströmt hatte, am Lavarone-Plateau.
An den kleinen Bahnhöfen, nahe schon bei Wien, rankte der wilde Wein den Perron entlang, sah man beim Durchfahren die von ihren sonntäglichen Ausflügen heimkehrenden Menschen dicht nebeneinander stehen.
Melzer fühlte es, wie rasch er der Stadt entgegen sank, dem fahrenden Zuge voraus; und daß hier nicht mehr galt, was dort draußen gewesen war. Fremde Verstrickung, an welcher er teilgenommen, entband ihn nur kurz, löste nicht dauernd aus der eigenen. Ihm war gleichwohl, als kehre er von längeren Ferien zurück und nicht von einem Aufenthalt über's Wochenende. Vom Konventionellen her, von der eigenen Außenhaut, kam jetzt die Verwunderung, wie schon mehrmals, aber nun zum ersten Male klarer, daß er in diesem Jahre den üblichen Urlaub noch gar nicht genommen hatte: ohne bewußte Absicht sich angleichend an Eulenfeld und die anderen, welche seit neuestem modische Orte des Wintersports aufsuchten, ohne jedoch diesen in nennenswerter Weise zu üben und zu beherrschen. So hatte denn Melzer heute, am 31. August, noch seinen ganzen Urlaub vor sich; aber keine eigentliche Absicht ihn anzutreten. Daß er jedoch den Ort, von wo er eben kam, als Aufenthalt nicht wählen würde, dies stand ihm ohne weiteres fest.
Längst
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