Die Strudlhofstiege
war es dunkel geworden, als der Zug in die Halle des Südbahnhofes einfuhr. Rauchig die Luft, aber milder, wärmer als draußen. Er kam die breiten Treppen hinab und auf die Straße. Die Stadt schien ihm wie tief gehöhlt, hallend, weiträumig, wie unter der Höhe des Meeresspiegels gelegen, in einer sogenannten Depression: bekrochen von zahlreichen Lichtern; jetzt fuhr klingelnd und erleuchtet seine Tram heran. Als er über den Ring kam, an der Hofburg vorbei, war alles von da draußen ohne Rest versunken: nur die Form des Ganzen blieb, das Steingewordene, das Unabwendbare. Es lag in ihm wie eine Art überschaubares Modell. Des Stiegenhauses gewohnte saubere Atmosphäre, Stallgeruch für den Menschen, das Heim. Die Schlüssel klimperten. Er berührte den Schalter im Vorzimmer nicht, durch die Glastüre der Frau Rechnungsrat Rak fiel genug heller Schein. Als er die Tür zu seinem vorderen Raum öffnete, wo der Kamin mit dem Bärenfell war, klaffte der Spalt nicht dunkel. Hier war Licht. Neues Licht, bisher in diesem Raum nicht gesehenes. Scharf, klar und einsam saß es nah am Fußboden, als sei der Wand und Tapete an dieser unbeachteten Stelle insgeheim ein Auge gewachsen und dieses sähe nun ihn von unten her voll aufgeschlagen an: strahlend, die Schatten verkehrend, das Unterste, kaum je Gesehene, nach oben werfend, Stuhlbeine, als klappten sie über dem Sitz zusammen, und den boden-nahen Sockel des Kamins herausleuchtend, daß er in's Auge sprang.
Melzer lehnte sich nach rückwärts, an die Innenseite der Tür, als bedürfe er einer Stütze, und so blieb er, das flache Köfferchen in der linken Hand.
Nun klopfte es hinter ihm. Frau Rak war auf leisen Hausschuhen gekommen. Sie hatte ihn erwartet, um jetzt mit Eifer zu erklären, was er bereits verstand.
Ihr Antlitz, in den Einzelzügen nicht unhübsch, war in allen diesen überschärft, hatte etwas Kasperle-artiges an sich, und besonders wenn sie sprach, leuchteten ihre schwarzen schmalen Augen allzu intensiv, fast saftig oder fettig. Dabei war sie immer bleich. Ein interessierter Pierrot. Dieser Ausdruck stammte von Eulenfeld.
Herr und Frau E. P. hatten auch, nachdem der neue Beleuchtungskörper genau nach Melzers Wünschen montiert worden war, mit Frau Rak vereinbart, daß die elektrische Kerze Sonntag abends eingeschaltet werde, bevor der Herr Major vom Land herein käme, damit die Überraschung eine perfekte sei. Das war sie wirklich. Als Frau Rak gegangen war, sah Melzer endgültig ein, daß ihm die Erklärung, welche er auch ohne die Hausfrau bereits wenige Sekunden nach seinem Eintritte gefunden hatte, durchaus nichts nützte. Das Aug' in der Wand war sofort in Verbindung geraten mit jenem überschaubaren sozusagen steingewordenen Modell in ihm selbst.
Etwas später fand Melzer auf der Platte seines Schreibtisches, genau in der Mitte, noch eine Visitekarte:
Herr und Frau E. P.
haben sich erlaubt, bei Ihnen, Herr Major,
Licht zu verbreiten.
Vierter Teil
Über der Stadt und ihren weit ausgestreuten Bezirken stand auf goldenen Glocken der Spätsommer, noch nicht Nachsommer, noch trat der Herbst nicht sichtbar ins Spiel.
Die Windstille war eine so vollkommene, daß eine leichte schwebende Luftgondel, die man sich im schwindelnden Blau etwa genau über der Strudlhofstiege hätte denken können, durch Stunden wäre am gleichen Punkte dort oben verblieben, ohne abgetrieben zu werden, etwa über den Strom und den langen Mugel des Bisambergs, dessen Gescheck von Wiesen, Feldern und Wald noch keine Veränderung der Farben zeigte. In den Wohnungen ist es sehr still; und diejenigen, welche augenblicklich gerade leer und versperrt sind, stehen doch wie geöffnet. Jedes glänzende Ding, allein gelassen, strebt da in die Ferne; und besonders dort, wo sich eine bedeutendere Aussicht von den Fenstern bietet in die vielsagende Stadtlandschaft, scheint etwa der spiegelnde Glanz auf einem einsamen Notenständer oder einem verlassenen Klavier innig verschmolzen mit jenem, der fern und fliehend auf unbekannten Dächern liegt. Auch in Frau Marys Wohnung war es sehr still.
Hier hatte sich seit dem Tode Oskar K.s (im Februar 1924, wie man sich vielleicht erinnert) nichts geändert.
Die lange Zimmerflucht lag, wie sie auch früher gelegen hatte.
Die Möbel standen, wie sie auch früher gestanden waren. Wenn die treue und stets vergnügte Marie nicht in der Kü che amtierte und also auch dort Stille herrschte – Glanz-Stille, denn die Küche lag an der Sonnen-Seite
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