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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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der Wohnung (die Zimmer dagegen nicht, ähnlich wie die Melzerischen), und Mörser oder Schneekessel blitzten als schweigende aber intensive Aussagen häuslicher Tugend – wenn also in der Küche die Stille kompakt wurde um alle stehenden und liegenden Dinge, dann hörte man hier durchaus nie die zeitmessenden fallenden Tropfen eines nicht ganz dichten Wasserhahnes. Er war dicht. Auch dieser Mund der Geräusche war fest geschlossen. Aber die vergehende Zeit brach sehr sichtbarlich minutenweise in die unveränderten sonnenlosen Zimmer (à la Melzer) vorne hinein, geräuschloser als die Uhren, so lautlos fast wie es ein Sonnenbalken vermocht hätte, der zwischen einem tief in sein spiegelndes möbelhaftes Schweigen abgestürzten Klavier und dem polierten Notenständer wandert, aufleuchten machend, in reifem Erstrahlen verweilend, erblassen lassend. Fast so lautlos fädelten dort in der Gasse, die genau senkrecht auf den Donau-Kanal zu führte, von Zeit zu Zeit die Taxis über den Fahrdamm, wie fallende Schnurperlen. Es blieb unerschütterlich leer und still. Der breite Kanal hielt den Ausblick offen. Die Bäume drüben am anderen Ufer waren noch grün. Und nicht weit von hier dehnte sich der Augarten (mit Tennisplätzen), die blasse Front des Palais wie zurückweichend, Perlgrund einer Muschel. Frau Mary K. spielte wieder Tennis. Auch Herr von Semski erschien noch im Klub, zusammen mit der Deutschrussin Frau von Sandroch. Die beiden hatten für Frau Mary noch immer eine Art höherer Weihe, wenngleich sie dieses sich keineswegs eingestand. Manchmal schaute sie ihnen nach, wenn sie auf breiten Alleen zwischen beschnittenen Bäumen entschritten. Frau von Sandroch pflegte nach dem Spiel ein lilafarbenes Seidentuch mit langen Fransen um die Schultern zu nehmen.
    Bub und Mädel wuchsen erfreulich heran. Aus dem Knaben wurde, war er gleich noch nicht vierzehn, schon ein junger Mann, welcher ans Obergymnasium heranrückte, drei Sprachen lernte und seiner Mutter ähnlich sah. Aber zwischen diese und ihn hatte die Natur unversehens ein Meisterstück von Variation hineinpraktiziert und sozusagen aus einer Schönheit zwei ganz verschiedene gemacht. War es dort eine Rahel, so wurde es hier ein junger König David; bis auf den allzu schmächtigen Oberkörper. Den prinzlichen Hirten, den Schleuderer und Besieger des Riesen Goliath stellt man sich wohl gerne mit fast jünglingshaft gewölbtem Thorax vor. Die Künstler der italienischen Renaissance haben uns ein solches Bild vor die Seele gespannt, und wir können nicht durch den Rahmen und dahinter springen wie die Clowns durch den Reifen. Der junge K. war ein Schäfer. Bräunlich und schön. Aus einem Bildnis von ihm hätte die Hirtenflöte klingen müssen. Englisch Horn.
    Seine um ein Jahr ältere Schwester hatte vom Vater vorteilhaft geerbt: nämlich das rötliche Haar und den darunter sitzenden Verstand. Sonst aber nichts. Zu ihrem Glücke. Ein Mädchen mit den Zügen des seligen Herrn Oskar K. wäre wirklich so etwas gewesen wie ein Zornesausbruch der Natur. Nun, sie sah auch der Mutter nicht ähnlich und nicht dem Bruder und überhaupt niemandem aus der Verwandtschaft. Zum rotblonden Haar paßte eine Haut wie Milchglas. Es war ein schlanker beweglicher Körper. Das Stumpfnäschen mit rein und ganz gerade gezogenem Rücken. Ein klares Antlitz, aber ohne Schärfe. Im Weiß und Rotblond dunkle Augen: ein Stich ins Außergewöhnliche ohne physiognomische Besonderheit. Sie sah mit ihren noch nicht fünfzehn Jahren aus wie mindestens achtzehn: eine perfekte junge Dame.
    Den Stolz einer Mutter auf solche Kinder wird man verständlich finden. In der letzten Zeit war er wohl etwas dick aufgetragen. Die ganze dreigliedrige Familie starrte sozusagen von Qualitäten.
    In Summa hatte sich also nichts geändert, weil alles musterhaft geblieben war. Der Schwerpunkt befindet sich in solchen Fällen oberhalb einer konsolidierten Halskrause: und so ist's denn ein zwar höchst honettes, aber, lebensmechanisch gesehen, doch labiles Gleichgewicht.
    Eine Kleinigkeit hatte sich gleichwohl geändert. Marys Tochter schlief nicht mehr in ihrem eigenen Zimmer. Sie lag nachts in dem nun leeren zweiten Ehebett neben ihrer Mutter. Das war von ihr selbst fast unmittelbar nach Oskars Begräbnis eingeführt worden, aus Liebe und trosthalber für die Mama, welche auf diese Weise vor dem gähnenden Rachen eines erstorbenen ehelichen Schlafgemaches geschützt wurde. So lagen denn die beiden Damen nebeneinander,

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