Die Strudlhofstiege
wenn Marie morgens eintrat, was zeitlich zu geschehen pflegte (Mary liebte es auch dann und wann mit ihren Kindern zu frühstücken). Sie lagen nebeneinander, rotblond und schwarz (mit tizianrotem Schimmer), und hätte irgend so ein alter Haderlump wie der Herr von Eulenfeld oder Kajetan von S. da jemals einen Blick hineinwerfen und erschauen dürfen, was die Marie täglich sah: nun, er hätte, in die für einen solchen grauslichen Menschen unangemessene Rolle eines wählenden Paris versetzt, nicht gewußt, in welches Bett den goldenen Apfel zu werfen.
Jene Substitution ehelicher Fundamentalien nun durch deren Produkt war freilich nur möglich auf Grund eines ganz ins Freundschaftliche und Schwesterliche umgeklappten Verhältnisses zwischen Mutter und Tochter. Diese fand sich durch das neue Schlafzimmer-Arrangement in der Gestaltung ihres Lebens nicht gestört; und, hätte eine derartige Gefahr bestanden, dann wäre es von ihr kaum in die Wege geleitet worden. Wenn sie einmal abends ausging und dann heim kam, so spät oder so zeitig, wie sich's eben zwanglos fügte, dann nahm sie allerdings leise und achtsam Rücksicht auf ihre Mutter: aber allermeist erwachte diese gern und lustig bei solchen Anlässen, und oft wurden die psychologischen Einzelheiten eines mit jungen Leuten verbrachten Abends noch vor dem Einschlafen im Dunkeln besprochen: hier hatte der Unterricht in der sozusagen inneren Physik einmal die liebenswürdigste Gestalt angenommen. Keine graue, raunende und dämpfende Weisheit an der Hintertüre einer Jugend. Es waren zwei Frauen. Aber den Anbetern der jüngeren wäre vielleicht wenig wohl gewesen, hätten sie solchen Generalstabs-Besprechungen einmal unvermerkt zuhören können. Ein Stockwerk tiefer, im Hause Siebenschein, gab es Konferenzen über den in Rede stehenden Gegenstand freilich auch, und die Fundamentalsprache war die gleiche: aber hier saßen oder standen sich die Parteien immer gegenüber, sie lagen nicht parallel, niemals, trotz des im Grunde gleichen Einverständnisses, welches dem Herrn von und zu René ganz langsam um die langen Ohren dämmerte, so daß diese sich argwöhnisch zurücklegten.
Die Witwe, auch als ein echtes und tiefes Trauerjahr herum war, veränderte ihre Stellung zur Welt nicht, oder sagen wir's gleich: zur Männerwelt, wie dieser oft überaus lästige, nicht selten auch lächerliche und unappetitliche Verein genannt zu werden pflegt. Aber freilich, Mary war von da her immer affiziert worden, auch während der Zeit ihrer Ehe, und von einem Doktor Negria im Grunde ebenso wie von einem Leutnant Melzer. Wenn aber der Pegelstand im Reservoir der Tugend einmal eine beträchtliche Höhe erreicht hat – etwa wie hier durch eine am Ende fast vierzehnjährige eheliche Treue – dann entschließt sich der Mensch schwer, das Ganze wieder bis zum Teilstrich Null abzulassen, mag der gleich tief zu innerst als eigentlich angemessen gewußt werden. Man braucht bereits diesen hohen Stand des Selbstwert-Barometers. Von Tugenden sich zu trennen, kann am Ende ebensoviel Selbstverleugnung erfordern wie das Abscheiden von eingealteten Lastern. Und wer den unter ihm allmählich emporgetürmten Schatz eigener Qualitäten und Verdienste von der Höhe der Halskrause zu mustern sich gewöhnt hat, der wird von dort oben ungern mehr herabsteigen, mag ihm auch das labile Gleichgewicht solchen Tresors mitunter einmal mahnend ins Bewußtsein kommen, wenn der ganze Bau fundamental erzittert. Auch denkt (soweit da von Denken die Rede sein kann) der normale Mensch von Natur aus kaufmännisch und hält am höchsten im Preise (aber eben dies bedeutet doch auch immer die Verkäuflichkeit!) was, einmal liquidiert, nicht mehr nachgeschafft und angesammelt werden kann: Keuschheit, Treue, Ehre, Jungfräulichkeit; lauter Sachen, an denen die Nicht-Umkehrbarkeit der Zeit sich manifestiert. So blieb denn Frau Mary K. in dem friedlichen Erker, von wo aus sie schon als Ehefrau die verschiedentlichen Tumulte (Durchbrüche) innerhalb ihres bescheidenen Horizonts gern betrachtet hatte, sitzen, ja, es schien dieser Erker jetzt, neunzehn Mo nate nach dem Tode ihres Gatten, auch ihr Witwensitz werden und bleiben zu wollen. Ihr Interesse an etwa in der Umgebung sich zeigenden Affären und Turbulenzen aber wuchs indessen sogar, und sie hatte sich innerlich sozusagen einen ›Spion‹ angeschafft, wie man jene Spiegel nennt, vermittels welcher man vom Fenster aus mehr sehen kann als die gewöhnliche Optik gestattet.
Um
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