Die Strudlhofstiege
diese Zeit – etwa zu Anfang des September 1925 – tauchte an zwei Punkten gleichzeitig jener Doktor Negria neuerlich auf, nämlich sowohl im Kreise des Rittmeisters von Eulenfeld, als auch – nach langer Unterbrechung – wieder im Tennisklub Augarten, ohne jedoch irgendwo zum Durchbruche zu gelangen oder turbulente Anstalten in einem solchen Sinne zu treffen: denn ein Durchbruch war ihm ja vor kurzer Zeit erst als forderndem Kunstfreund geglückt. Man kann in Wien sich nacheinander in den verschiedensten Kreisen bewegen: am Ende kommt man wieder beim ersten heraus, den man betreten; man läuft wie durch den Quintenzirkel in der Musik; es war nur eine enharmonische, keine unharmonische Verwechslung, in einer Stadt, deren Hauptstraße ja gleichfalls in sich selbst zurückläuft, ähnlich dem Dreivierteltakt, der eine verwandte Empfindung vermittelt. So also langte der Doktor Negria wieder bei Editha Schlinger und Frau Mary K. an, jedoch moderat, wie schon angedeutet. In den Klub brachte er übrigens dann und wann den Gegenstand seiner neuesten Kunstrichtung mit. Was ihn hier zum neuerlichen Eintritt eigentlich veranlaßt hatte, blieb zunächst unerkennbar. Das Kunstobjekt, welches vom Tennis so viel wußte wie ein Reiteroberst von der Mikrotomie, verhielt sich danach, sah beim Spiele nur zu – aus gelsenhaftem Gesicht und mit einer tiefen, ja sozusagen schon verinnerlichten Unverschämtheit – und gelangte viel später einmal im Klubhaus, als man abends etwas tanzte, nach einem uns schon bekannten Rezepte zum Durchbruch: jedoch auch hier nicht mit dem Doktor Negria. Denn bei diesem war zu jener Zeit obendrein eine neue Turbulenz ausgebrochen, welche ihn unverzüglich an Angely de Ly sowohl wie an Mary K. vorbeiriß, und zwar direkt auf die mürbe Frau Sandroch zu, wobei Semski über den Haufen gerannt wurde. Nun, das sind schließlich schon perspektivische Verlängerungen, Fluchtlinien, die den weiteren Verlauf dieser Nebensachen andeuten, aber mit dem Leben des Majors Melzer so wenig zu tun haben, wie etwa die besonderen Umstände von Julius Zihals Verlobung im Jahre
1913. Mary und Negria, als sie eins des anderen im Augarten ansichtig wurden, empfanden beide im Grunde ein schlechtes Gewissen, das sie zu überdecken und zu überbrücken strebten. Dies förderte den Kontakt. Nie unterhält man sich so lebhaft wie wenn es darauf ankommt, nicht auf das zu kommen, wovon eigentlich alles herkommt. Sie hatte ihn 1923 aufsitzen lassen (in Nußdorf), und er hatte ihr dafür nie gedankt. Jedoch Negria – von dem beispielsweise die Editha Schlinger, wenn auch irgendwie verändert, doch wieder in den Krallen Eulenfeld's angetroffen worden war – wunderte sich über gar nichts mehr. Zudem war es die müde Art der Bewegung, welche die Hüften der Sandroch beim Gehen machten, die ihn possedierte, und so kam's, daß er mit Mary K. zum ersten Mal ein vernünftiges Gespräch führte. Und er gefiel ihr dabei so übel nicht.
Freilich nahm sie Anstoß an der Gelse, wie übrigens fast jedermann hier.
Bis dann Negria Anstalten zur Berennung der Sandroch traf und die Gelse nicht mehr in den Klub mitbrachte.
In der Pause, welche zwischen dem Ende der ersten und dem Beginn der zweiten Aktion entstand, etwa gegen die Mitte des September, promenierte Mary sogar ein oder das andere Mal mit Negria auf den Wegen im Park. Man ging hier in der milden Sonne wie in Milch aufgelöst, und zugleich wurde jene in die Ferne saugende Wirkung immer fühlbarer, welche der Herbst gerade in der Stadt am allermeisten hat, weil man diese als einschließend rund um sich weiß. In jener Allee, wo Oskar und Mary sich an dem Tage geküßt hatten, vor zwei Jahren, als der Doktor Negria in Nußdorf vergeblich aber nicht umsonst im Café wartete (und sie hatte in den Armen Oskars der ersten Zeit ihrer jungen Ehe gedacht und des Kusses auf der Strudlhofstiege) – eben hier, abseits, zwischen den Baumreihen, die auf den blassen Palast im Hintergrunde zuliefen, erzählte ihr Negria auch von seinem Ausflug in's Gebirge in den letzten August-Tagen und einem merkwürdigen Tanzabend, den er dort draußen im Hotel mitgemacht habe; die Namen Fraunholzers und Etelka Grauermanns waren seinem Gedächtnisse nicht entfallen. In Mary schlug eine Alarmklingel an.
Sie rief Frau Mary K. zugleich aus einer inneren Lage dem ansehnlichen Negria gegenüber heraus, welche von ihr unmöglich gutgeheißen werden konnte. Hier und jetzt aber eröffnete sich ein geschäftiger
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