Die Strudlhofstiege
knopf-äugigen Erloschenheit, einen bekümmerten Eindruck machte. Als ihr einfiel, daß es besser wäre, ihm auch morgen nichts zu erzählen, sondern zunächst einmal bis Montag zu warten und sich mit Paula zu unterreden, wurde ihr leichter und belebter zu Mute. Gerade dieser Gedanke war überaus tröstlich; und er stand in einer weiter nicht benannten Verbindung mit Melzer.
Die Zwillinge Pastré waren in Wien kaum wieder vereinigt – nachdem sie über den Sommer einander nur zu Salzburg und sonst an westlichen Orten und zu München gesehen hatten – als zwischen ihnen Streit ausbrach, trotz der zärtlichen Umarmungen und Begrüßungen auf dem Westbahnhofe, ja unter anderem geradezu wegen derselben. Editha – sie war die Eintreffende gewesen – hielt es für im höchsten Grade verfehlt, daß ihre Schwester, von der sie seit dem Frühjahr in Wien sich sozusagen hatte vertreten lassen, auf dem Bahnhofe erschienen war; denn sie gedachte den bisherigen Zustand, genauer, die Einmaligkeit ihrer Person, noch durch eine begrenzte Zeit aufrecht zu erhalten: weshalb ein gedoppeltes Auftreten, sei's nun wo immer, sich keineswegs empfahl, und schon gar nicht in der Menschenschleuse eines Bahnhofs. Jene aber hatte gehofft, gerade jetzt die lästige Komödie zu enden. Vor allem ging's da auf den Rittmeister los, der das Abholen zu übernehmen gehabt hätte, jedoch wahrscheinlich, wie Editha vermutungsweise äußerte, noch vor dem eigentlichen WochenEnde betrunken gewesen sei und daher zu faul oder gar nicht mehr im Stande, zur Bahn zu fahren. Es läßt sich leicht denken, daß auf diese Unverschämtheiten Edithas hin ein schon recht kräftiges Grunzen ertönte.
Daß die Frau Inspektor Hawelka in opportuner Weise aus der Unterwelt in's Stiegenhaus auskroch, eben als der Wagen, in welchem man vom Bahnhofe gekommen war, vor's Haus rollte, dieser Umstand brachte Editha keineswegs auf: vor jener wäre die Einheit der Person ja doch kaum, oder nur unter den größten Schwierigkeiten und geradezu das Leben hemmenden Kautelen, aufrecht zu erhalten gewesen; weshalb man denn, nach Edithas Abreise im Frühjahr – sie wollte zu Bordeaux ihre dort von Bord gehende Schwester empfangen – die vierzehn Tage später allein in Wien eingetroffene Mimi Scarlez, geborene Pastré, sogleich mit ihrem richtigen Namen und auf Grund ihres argentinischen Reisepasses ohneweiteres durch die Hausmeisterin polizeilich hatte anmelden lassen. Freilich hätte man sich damals jede Meldung überhaupt ersparen und einfach die eine für die andere gehen oder eigentlich zurückkehren lassen können: Frau Hawelka etwa wär' als die allerletzte fähig gewesen, das Schwesternpaar zu unterscheiden. Aber Editha schaute voraus bis ans Ende des Sommers, wo sie selbst wieder nach Wien zu kommen gedachte: in Rechtsgeschäften und zwar solchen, die Mimi angingen. Da hieß es, festen Boden unter den Füßen wissen und alle Formalitäten in Ordnung, um überhaupt auftreten zu können, nicht aber monatelang in Wien unangemeldet gelebt zu haben. Nun wäre noch die Möglichkeit verblieben, die Meldung bei der Polizeibehörde selbst vorzunehmen, ganz ohne die Hawelka; und diese bei der Meinung zu lassen, Frau Schlinger sei nach kurzer Abwesenheit wieder zurückgekehrt; aber dies hätte ja nur geheißen, ein aus dem Rahmen des Alltäglichen fallendes Faktum der Hausmeisterin erst nach dem Sommer vor die Nase zu setzen in Gestalt urplötzlich gedoppelten Auftretens; so aber hatte sie doch, statt unvermittelter breitschlagender Anschaulichkeit, einige Monate Zeit sich an die Vorstellung zu gewöhnen, daß die überseeische Zwillingsschwester der Frau Schlinger jetzt dort oben in deren Zimmern wohne. Und, obendrein und zu allem noch: man vermied es auf diese Weise, die Frau Inspektor bei der polizeilichen Meldung zu übergehen, was bei deren naturgemäß zihaloider Beschaffenheit wenig empfehlenswert, ja bedenklich gewesen wäre.
Nun, damals, beim Eintreffen Mimis, war der Rittmeister freilich am Bahnhofe erschienen; mit viel Blumen; und tiefgerührt; und überaus charmant, und so, als ob es bei ihm nur eine, nämlich die allerbeste Seite gäbe. Ein Jahr seines Lebens und mehr, und nicht eines der schlechtesten, stieg aus dem langen Wagen des Schnellzuges, wie eine Aureole um Mimi Scarlez liegend. Und diese, mit bangen, ja drückenden Empfindungen nach siebzehn Jahren wieder in Wien eintreffend, fand alsbald am Perron des Westbahnhofes ein Stück von Buenos Aires vor und so, als
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