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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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zu lassen, dann wirst du wohl auch keinen Anstand genommen haben, Mimis ganze Korrespondenz dort auf dem Sekretär nach und nach durchzulesen. Gelegenheit war ja genug, wenn ihr euren Nachmittags-Schlaf gehalten habt, Mimi drinnen und du hier auf dem Diwan, wie sie's mir einmal im Sommer geschrieben hat. Genau genommen machte jenes zweite ja das erste eigentlich unnötig, und wozu du dir den Umstand mit dem Paß und dem Mädel gemacht hast, wo die Briefe doch hier gut bei der Hand sind, weiß ich nicht. Es sei denn, daß du Mimi meinen Brief überhaupt vorenthalten wolltest. Das ist aber nicht gelungen.«
    Jetzt hatte sie ihn wirklich überrannt, überfahren. Das Monokel fiel. Ein außerordentliches Staunen überflutete das für einige Augenblicke wie nach innen geklappte Eulenfeld'sche Antlitz. Und zunächst einmal gar nicht wegen jener Bemerkung, mit der Editha geschlossen hatte. Sondern das Staunen war ein rückbezügliches, es galt der eigenen Person und ihrem diesbezüglichen Verhalten. In der Tat hatte der Rittmeister es sich nicht einfallen lassen, die Briefe vom Schreibtische zu nehmen, während Mimi nebenan schlief. Dies wäre ihm – an der inneren Oberfläche sozusagen – als ganz indiskutabel und unwürdig erschienen. Aber während sie nicht nebenan sondern neben ihm geschlafen hatte, da war er gleichsam unter die innere Oberfläche getaucht und hatte ihren Paß genommen, um auf diese umständliche Weise durch Thea zu einem Briefe zu kommen. Man könnte sagen: was ihm der nebenan schlafenden Dame, als einem Freunde, und in ihrer Wohnung allein gelassen, anzutun nicht eingefallen wäre, das überbot er noch, als sie mit ihm unter einer und derselben Decke steckte. Dort galten gewissermaßen noch die Gesetze der Kameradschaft, hier indessen ganz andere … Während er so dachte, zwischen zweien Stockwerken seiner, wie ihm jetzt schien, keineswegs plan zusammenhängenden Person auf- und niedersteigend, nahm Mimi aus der rechten Lade des Sekretärs, welche sie mit einem Schlüsselchen geöffnet hatte, ein kleines grünes Notizbuch hervor. Eulenfeld hob den Kopf. Jetzt erst kam ihm die letzte und auffallende Bemerkung Edithas zum Bewußtsein. »Wat meinste mit ›is nich gelungen‹?« sagte er ganz nebenbei, und noch immer die bisherigen Vorstellungen bewegend.
    Sie schienen beide wie aus einer tiefen Versenkung emporgetaucht, nicht nur Eulenfeld, sondern auch die Scarlez. Auf diese wies jetzt Editha: »Das soll dir Mimi sagen«, sagte sie nur kurz. Mimi war aber eben jetzt erst, das grünlederne Notizbüchlein ergreifend, ihrem Schacht von Vorstellungen wieder entstiegen, der sich wie eine Fallgrube unter ihr geöffnet hatte bei jenen Belehrungen durch Editha, denen vom Rittmeister ärgerlich der Name eines ›Theoreticums‹ gegeben worden war, wegen ihrer in's Beispielhafte ausholenden Art (und eben das mußte auf einen alten Husaren als Naseweisheit wirken!). Sie stieg nur langsam wieder empor, ähnlich wie die Mutter Rokitzer bei den Einsiedegläsern, als sie vor den Augen der erschreckten Loiskandl versunken war, die ihr dann, über den Rand gebeugt, was nachgerufen hatte. Aber Mimi war tiefer hinab getaucht. Bis zum Jahre 1908. Ihr Gedächtnis war so schlecht nicht, wie der Major Melzer glauben mußte (und ihm, weder Husar noch Bootsmann – was hatte schon die alte Bosniakentruppe der k. u. k. Monarchie mit der Kavallerie oder Marine zu tun! – ihm waren solche Sachen sehr wichtig). Das Gedächtnis Mimis jedoch blieb ein durchaus anfallsweises und also doch wieder keines, nach der Meinung des Herrn von und zu René wenigstens … Es zerplatzten seine Inhalte allermeist in auseinanderfliehende regenbogenfarbige Strähne oder Streifen, wie mitunter am Abendhimmel, wenn alle Wolken von einem Punkt aus weggekämmt scheinen und ein so beschaffener Horizont als ein starkes Rufzeichen hinter einem stummen und also unverständlichen Satz steht … Jedoch diesmal hielt's bei ihr zusammen: München 1908. Sie war kaum sechzehn gewesen. Und das Fräulein, aus Neuchâtel in der Schweiz, welches die Zwillinge begleitete, höchstens fünfundzwanzig (dem alten Pastré war sie zu hübsch und deshalb verdächtig, aber seine Frau hielt viel auf das Mädchen). Sie saß am liebsten im Schreibzimmer des Hotel ›Regina‹ am Maximiliansplatz und schrieb Briefe, seitenlange, stundenlange. Dieser Beschäftigung allerdings ward sie durch den Bewegungstrieb der Zwillinge vielfach entrissen und entführt, zum Beispiel in die

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