Die Strudlhofstiege
und geachteter Leser, was hältst du eigentlich vom Handeln – ich meine: gehört es wirklich uns? ist es für uns immer bezeichnend? Aber paß' auf, es steht viel auf dem Spiel bei dieser Doktorfrage, denn, zum Exempel, wird sich deine ganze Einstellung der dramatischen Literatur gegenüber nach ihrer Beantwortung richten müssen! Keine Abschweifungen! Jedes avis au lecteur ist verdächtig.) Melzer also sagte dazu noch, daß es viele Jahre über 1918 hinaus bei ihm durchaus so geblieben sei (bis zu einem bestimmten Samstag-Nachmittage). Wie beim Militär, wo man nicht irgendwohin geht, sondern einfach irgendwohin kommt, ist Melzer, als der Zusammenbruch von 1918 die militärische Laufbahn unseres damaligen Majors beendet hatte (in dem kleinen republikanischen Heer konnt' er nicht lange weiterdienen), zur österreichischen Tabakregie ›gekommen‹, und zwar als Amtsrat und nicht als Inhaber einer Trafik, denn darauf hatten nur völlig invalide Offiziere Anspruch. Gut so, er diente weiter. In der Porzellangasse. Dort amtierte Melzer. Es war ein großes Gebäude, schon nahe dem böhmischen Bahnhof, das außerdem eine Steuer-Administration enthielt. Ging man am Trottoir vorbei, dann umhauchten und umwogten einen alle Düfte Persiens und der Türkei, von ›Sultan flor‹ auf- und abwärts: denn in dem Hause war auch ein ›TabakHauptverlag‹, und auf solche Sachen hat sich ja die alte österreichische Regie – wenn auch nicht mehr kaiserlich-königlich – recht gut verstanden, das muß man ihr einmal lassen. Aber Melzer ging an dem Gebäude damals selten vorbei, sondern meistens hinein oder heraus, und zwar ersteres – wenn man von dem mittäglichen Gang zum Essen und nachher kurz ins Café absieht – morgens zwischen acht und halb neun, letzteres abends zwischen vier und fünf (inhumane Büro-Zeiten waren in jenen Tagen noch unbekannt). Bis nach vorn an die Ecke zum Althan-Platz vor dem böhmischen Bahnhof kam er eigentlich nie, denn sein Mittagessen pflegte er nicht in der dort gelegenen großen Weinhalle, sondern in einem ganz vorzüglichen Beisl einzunehmen, welches sich mehr gegen die innere Stadt zu und etwa in der Gegend des Miserowsky'schen Zwillings befand.
Den böhmischen Bahnhof frequentierte Melzer jedoch den ganzen Sommer des Jahres 1925 hindurch an manchem Samstag, und das war eine der Veränderungen, welche der Zerrüttmeister von Eulenfeld in das Leben des Majors hinein brachte: sonst sind sie nicht belangreich gewesen, auch nicht von Dauer, diese Modifikationen. Der Rittmeister und seine Bande – der ›troupeau‹ genannt – diese Leutchen fuhren am Ende jeder Sommerwoche, wenn die Sonne schien, unweigerlich in eines der Donaubäder hinaus nach Kritzendorf oder Greifenstein oder Tulln. Man übernachtete in irgendwelchen Wochenend-Häuschen, die irgendwer besaß oder die man irgendwie benützte.
Den Rittmeister von Eulenfeld kennen zu lernen muß damals in Wien überhaupt schwer vermeidlich gewesen sein, es könnte einem das fast so erscheinen. Auch Mary K. hatte diesen Eindruck. Im Verlaufe ihrer viel späteren Beziehungen zu Kajetan von S. ist natürlich auch der Zerrüttmeister einmal aufgetaucht, allerdings ohne daß er auf Frau Mary hätte zerrüttend wirken können. Sie hielt Eulenfeld eigentlich für eine Art Krankheit.
Melzer lag auf seiner Linie. Des Rittmeisters auf's Behagen und wohl auch auf Lotterei gerichtete Instinkte und Talente fanden bei Melzer keinerlei entgegenstehende Kanten, an welchen sie sich hätten brechen müssen. Hinzu kam das unverbindliche Pathos einer Gemeinsamkeit als ehemalige Offiziere der verbündeten deutschen und österreichisch-ungarischen Heere im ersten Weltkrieg (Eulenfeld hatte seine frühen totalen Räusche schon vor 1914 an den Brüsten des vierzehnten Husarenregiments zu Kassel gesogen, er war, ebenso wie Melzer, ein gewesener aktiver Offizier). Der Rittmeister teilte nicht die Irrtümer und verdrehten Anschauungen mancher seiner Landsleute in bezug auf Österreich, wirkte also nie beleidigend, woran ihn auch seine im großen und ganzen guten Manieren allein schon verhindert hätten. Hierher nach Wien war er, wechselvollen und wohl auch stellenweise recht zweifelhaften Jahren entfliehend, die er von 1918 an in Südamerika, in England und im deutschen Bürgerkrieg verbracht hatte, um die Wende von 1922 und 1923 gelangt, zunächst als Leiter einer Automobil-Fahrschule: von daher stammte die Bekanntschaft mit Melzer, der es eines Tages für ganz
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