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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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niemand erspart bleiben, der eigentlich gelebt hat: die tiefe Angst nämlich, nicht eigentlich gelebt zu haben. Man könnte sagen, daß damit immerhin ein bedeutender und neuer Schritt ins Leben getan sei.
    Um zur Wahrheit über die Beziehung Melzers zu Eulenfeld vorzudringen, muß man doch, so scheint's jetzt, beide Erscheinungen irgendwie formulieren (was bei der relativen Unentschiedenheit und Verwaschenheit solcher Menschen immer unsicher ist) und dann versuchen, sie einander gegenüberzustellen. Jedoch nicht eigentlich die Charaktere und irgendwelche psychologische Einzelheiten: sondern die Mechanik der Geister – soweit da vom letzteren die Rede sein kann – müßte ausgedeutet werden, also die physiognomische Grund-Anlage, welche sich dann im Materiale eines Charakters darstellt. Man könnte sagen, daß Melzer in dieser Hinsicht aus einem schnelleren und einem langsameren Grundstoff bestand, daher zunächst aus dem schnelleren sein Leben bestreiten mußte, also gewissermaßen inkomplett; Eulenfeld hingegen aus dem schnelleren Stoffe allein, daher er denn auch allen Menschen von Anfang an als recht komplett und fertig entgegentrat. Es wäre indessen möglich sich vorzustellen, daß Melzer die langsamere Substanz mit der Zeit auch bis an den Außenwall seines Lebens vorgebracht hätte, um dort seine beiden Grundstoffe zu vereinigen und so den kleinen Spalt, welcher seine Existenz durchzog, zu schließen und zu heilen. Das hat er offenbar immer gewünscht: das Geschlossen- und Heil-Sein nämlich, aber mißverständlicher Weise nahm er dabei den Rittmeister als Wunsch- und Vorbild.
    Dieser Irrtum wurde auch durch ein Präjudiz seines Lebens begünstigt: Melzer übertrug ständig, und freilich ohne es zu wissen, seine eigenen Empfindungen und Einschätzungen aus dem Erinnerungsbilde, welches er sehr lebhaft von dem Major Laska besaß, auf Eulenfeld. Das waren gewissermaßen die Voraussetzungen seines Umganges mit dem Rittmeister, und er konnte danach gar keine anderen als förderliche und stärkende Wirkungen von dieser Seite erwarten. (Daß er überhaupt anlehnungsbedürftig war, hat der Leser längst gemerkt – auch Mary Allern gegenüber ist das sicher in irgendeiner Weise hervorgekommen – ich bringe diese allgemeine Gemütslage Melzers hier nur beiläufig in Erinnerung.) Der Major und spätere Oberst Laska aber, seligen Angedenkens, hatte, um's kurz zu sagen, beide Melzerischen Grundstoffe sehr wohl in sich getragen, jedoch gründlich coaguliert und ganz spaltlos verschmolzen.
    Im weiteren Verlaufe des Verkehrs mit dem Rittmeister mußt' es freilich für Melzer allmählich fühlbar werden, daß da irgendwas ›au fond du fond‹ nicht stimmte, in den Voraus setzungen also. Aber unser einstmaliger Leutnant und Bärenjäger war kein analytischer Kopf. Er fühlte sich nur bedrückt. Jedoch gerade dies, gerade diese häufigere Bedrücktheit, kam in dem Laskaschen Erinnerungsbilde durchaus nicht vor, und so sonderte sich dieses allmählich wieder von Eulenfeld ab, mit welchem es für Melzer eine Zeit lang schon hatte da oder dort verschmelzen wollen … Es kam noch einiges als weniger wesentlich hinzu; Eulenfeld war ein starker Trinker, und Melzer, einmal zu Eulenfeld hin tendierend, oder sagen wir lieber, von dessen Lebens-Stil fasziniert (das Wort ist nicht zu stark), tat sich beinahe Gewalt an, um es irgendwie auch zu werden, da eben anders bei dem Rittmeister gar nicht mitzuhalten war; und außerdem gefiel ihm die Art von Eulenfelds Trinken, die Cognac-Flasche in einer weißen Papier-Serviette rückwärts im Wagen, die Gewohnheit des Rittmeisters, beim Trinken die Zigarette aus einem langen Papier-Spitz zu rauchen; und vielleicht erhoffte der Kindskopf Melzer vom Trinken eine Art Auflockerung und Förderung der von ihm angestrebten Richtung? Nun hatte aber unser Major aus seiner Jugend keinerlei Übung mitbekommen im regelmäßig wiederkehrenden Bezwingen alkoholischer Quantitäten. Es war das im österreichischen Heer nicht in solchem Maße üblich gewesen wie bei den Deutschen. Es tat ihm nicht immer gut.
    Die Unterschiede gegenüber dem Erinnerungsbild aus der Zeit des Zusammenlebens mit Laska traten doch nach und nach als deutlich fühlbar hervor.
    Von der Bärenjagd im Herbst 1910 an konnte man es nämlich fast ein Zusammenleben nennen, wozu dienstliche Umstände und Zufälligkeiten auch noch das ihre beigetragen hatten; Melzer wurde sogar einmal als vertretungsweiser Batail lons-Adjutant nach

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