Die Strudlhofstiege
Banjaluka kommandiert. Die beiden Jagden mit dem Major zu Dobropolje und auf der Treskavica waren nur die ersten einer Reihe von Unternehmungen ähnlicher Art gewesen; jedoch behielt die Bärenjagd für Melzer nicht nur einen uneinholbaren Vorsprung ihrer köstlichen Trophäe wegen, sondern auch innerlich als markierender Punkt einer neu anbrechenden Zeit. Er begann damals die Trennung von Mary allmählich auf eine geeignetere Weise als bisher zu ertragen, so wie jemand etwa, der endlich die richtige Lage für den Transport eines schweren Gepäckstückes gefunden hat. Und gerade von da ab illuminierte ihn innerlich immer mehr sein Vorsatz, die Urlaube des kommenden Jahres 1911 teilweise in Wien und auch auf dem Lande im Rax-Gebiet zu verbringen, ein Gedanke, der ihn, wie man sich vielleicht erinnert, schon auf der Reise nach Trnowo beherrscht hatte, während er im Halbschlaf über den Semmering gefahren war.
Drei Tage nach der Fahrt im roten Automobil gab es für Melzer eine sehr lebhafte Erinnerung an jenes Jahr 1911, dessen Sommer-Urlaub er in der Tat so verbracht hatte, wie er sich's ein Jahr vorher während der hohl sausenden und ziehenden Fahrt durch die Semmering-Tunnels vorgenommen: nämlich zum guten Teil auf der Villa Stangeler.
Er begegnete der Editha Schlinger-Pastré unvermutet am Graben. Es war gegen fünf Uhr. Melzer hatte nach dem Schlusse seiner Amtsstunden in der Stadt noch was zu besorgen. Jene Begegnung allein nun wäre wohl nicht geeignet gewesen, den Major in das bewußte Jahr und in eine doch schon recht ferne Vergangenheit zurück zu verweisen: um so weniger, als sich mit ihr ja gerade die lieblichste Gegenwart darbot. Aber zwei Zwischenfälle vermochten jenes Zurück-Verweisen sehr wohl. Der eine war am heutigen Morgen passiert, als ein fast rein inneres Vorkommnis, und der zweite widerfuhr Melzern in Gesellschaft Edithas auf der Straße, und als etwas von außen Herantretendes.
Als Melzer sich um acht Uhr in's Amt zu begeben im Begriffe war und den Flur seines Wohnhauses durchschritt, sah er dort neben der Wohnung des Portiers eine bisher gar nie bemerkte Türe offenstehen, aus welcher – und eben dies spürte Melzer schon auf den untersten Stufen der Treppe – ein diesem Stiegenhause und seiner reinlich-kalkigen Atmosphäre ansonst gänzlich fremder Geruch drang: faules Laub? Moder? Aber es war etwas Dumpfes, wie Gummi, dabei. Im Vorbeigehen blickte Melzer in diese Werkzeug- und Rumpelkammer – das war's – und sah da auch ein Fahrrad drinnen, vielleicht waren es sogar zwei.
Obstinat während des Vormittages im Amt meldete sich immer wieder, zwischen den gewöhnlichsten Spalten gewohnter Tätigkeit, diese Ansprache aus einem gleichsam neu durch die begrenzende Wand des ihn umschließenden Bewußtseins gebrochenen Raum, der wohl auch früher dagewesen – und zwar vor sehr langer Zeit schon – nie aber von Melzer bemerkt worden war. Doch jedem Versuch der Erinnerung oder Deutung (und die wurden ja auch nur in sekundenbreiten Spalten vorgenommen, also wahrhaftig nicht ernstlich) weigerte sich dies, wie eine Mauer dem Durchgang.
Als er nun Editha auf dem Graben erblickte (er überholte sie noch vor St. Peter) klang doch auch hier ein Stück vom Vergangenen an – aber ein nennbares und deutbares – wenn sich dies auch vor seinem höchst gegenwärtigen Erfreut-Sein so gleich rasch zurückzog, wie ein kleiner um eine Ecke schlüpfender Schatten. Sie begrüßte ihn übrigens, wenn nicht gerade kühl, so doch recht gleichgültig, ganz so, wie sie auch bei dem Automobil sich verhalten hatte vor drei Tagen, trotzdem es da ein Wiedersehen nach zwölf Jahren gewesen war, denn man schrieb ja jetzt 1923: so weit lag jene Garden-party in Grinzing bei Schmellers zurück, die den Herrn von Semski einen Teil seines Lebensglückes gekostet hatte (dieser vermeinte damals natürlich das ganze). Melzer war bei dem Feste gewesen; allerdings in irgendeiner Weise als Angehöriger der Partei Asta Stangeler und damit Ingrid Schmeller … jedenfalls hatte er Editha bei diesem Anlasse, im August des Jahres 1911, zum letzten Male erblickt: nachdem er sie vorher durch vierzehn Tage fast täglich zu sehen bekam, nämlich auf der Villa Stangeler, wohin sie ihrer Freundin Ingrid Schmeller zuliebe gleichfalls eingeladen worden war …
Er begleitete Editha den Graben entlang. Hätte er gewußt, daß er sie, vom heutigen Tage an gerechnet, nach fast zwei weiteren Jahren erst wiedersehen sollte: es ist nicht zu
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