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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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wieder da, als sie einander getroffen hatten, noch vor St. Peter: gleichgültig, beiläufig, wenn nicht kühl. Sie tat ein paar Schritte auf den turmartig hohen Autobus zu, der eben heranrollte, es war wohl derjenige, nach welchem sie Ausschau gehalten hatte. Nun wandte sie sich zu Melzer, gab ihm rasch die Hand. Er sah sie an, umfaßte ihre ganze Erscheinung in einer Art von Hilflosigkeit, in welche ihn diese plötzliche Trennung stürzte: jetzt erst, spät genug, ging ihm auf, wie vollendet sie gekleidet war, wie vortrefflich dieses taubengraue Complet zu ihr paßte, wie entzückend der kleine Hut saß. »Auf Wiedersehen«, sagte sie und kletterte die Treppchen auf's Verdeck hinauf (es gab damals ein solches noch bei diesen Fahrzeugen in Wien). Sie schien sich auf der anderen Seite des Wagens, gegen den Dom, niedergelassen zu haben, sie blieb Melzers Blicken entzogen. Mit Lärm und Stank fuhr der Bus an und rollte ab.
    Melzer trat zurück und blieb vor dem Café de l'Europe stehen. Merkwürdigerweise erschien ihm jener eine Satz in fran zösischer Sprache, den Editha rasch und zwischendurch gesprochen hatte, wie ein Schlüssel zu ihrem Wesen, wie die Erklärung und also beinahe Auflösung einer Dissonanz, welche sonst aus ihren Worten ihm fein feilend ins Gehör gedrungen war. Der Inhalt des französischen Satzes aber blieb dabei gänzlich belanglos (»was mich betrifft, würd' ich mich zu Tod langweilen mit so einem Patsch«). Sondern er machte nur hörbar und auf die gedrängteste Art evident, daß eben diese Sprache von Editha gleichsam aus einem ihr näheren Quell geredet wurde als das Wienerische, dessen sie sich vielleicht nur jetzt gerade aus einer Laune beflissen hatte, sogar unter Verwendung vulgärer Wörter; aber nicht ohne gegen dessen innere Grammatik zu verstoßen, wie eben ein – Ausländer tut; und das muß kein geographischer sein. Es gibt Ausländer unter den Inländern, unter den Parisern wie unter den Wienern, unter den Genfern wie unter den Athenern. Melzer freilich dachte jetzt keineswegs solcherlei Sentenzen. Aber was ihn plötzlich anflog, wie ein Pfeil anflog, der sich einbohrt, haftet, zu sitzen kommt zitternden Schaftes: das war, daß er nun die UrsprungsStelle jenes Reizes, den Editha auf ihn wirkte, sehen konnte, wie enthüllt und entblößt: dies ein ganz klein wenig Fremde, dies Außenstehende, irgendwie Süß-Linkische, es war diese Sprache! Er hätte sie mögen einmal in reinem Hochdeutsch reden hören – ob sie hier wohl auch jenen leichten, ja zarten Bruch würde hineinbringen? Wahrscheinlich doch nicht. Leider …
    Daß sie zum Beispiel mitten in ihre wienerischen Auslassungen hinein ›bewahre‹! gesagt hatte und ›begrüßen‹ statt grüßen!
    Den Major Melzer wehte es an wie aus einem sehr fernen Horizont seines eigenen Innern, während zugleich dieser herbstliche Tag mit schon geneigter Sonne, aber noch strahlendem Himmel an ihm saugte, ihn nach allen Seiten auseinanderzog, so wie hier der Stern der Stadt vom Zentrum in die vier Windrichtungen ausfiel mit den Straßen: ins Grüne, Offene, dem entfremdet man hier ging und stand. In südliche merkwürdige Länder auch, die einst dazugehört hatten. Nun waren seit fünf Jahren diese Nervenbahnen durchschnitten. In die Wunde hinein drang Edithas süße, verfälschte Sprache. Verfälscht, nicht gemindert. Auch der geschnittene Ball beim Tennis erhält durch die ›Fälsche‹ keine Minderung, sondern eine Mehrung seines taktischen Wertes.
    Er verrann durch Sekunden in seine gleitenden Vorstellungen, die sich selbständig gemacht und jeder Leitung entzogen hatten, so wie's manchmal knapp vor dem Einschlafen geht. Da war der Tennisplatz bei der Villa Stangeler, etwas oberhalb derselben gelegen. Geyrenhoff. Die Schmeller. Marchetti. Der Gymnasiast René. Aber keine Editha Pastré, obwohl er sie doch durch vierzehn Tage dort hatte herumlaufen gesehen. Vor allem: 
    Asta. Die anderen standen nicht richtig auf der Erde, in der Gegend, in der Landschaft; nur wie Zinnsoldaten auf einem Fußbrettchen, herausgeschnitten aus dem Grünen oder dem Kies. Plötzlich aber fiel ihm ein, daß beide Eltern Edithas nicht aus Wien stammten, sondern aus der französischen Schweiz, aus Lausanne oder Genf, oder da wo herum. So viel wußte er noch über diese Familie. Das war nun erst der wahre Schlüssel: zu allem, wie Melzer vermeinte! Jedoch, er war weniger zum Öffnen, als zum Abschließen geeignet. Melzer tat's, verließ alsbald auch seinen

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