Die Strudlhofstiege
Standort. Er ließ ihn hinter sich und ging die Rotenturmstraße hinab, gegen den Donaukai zu.
Am 12. Mai jenes nun schon mehrfach heraufzitierten Jahres 1911 saß der Gymnasiast René Stangeler abends gegen fünf Uhr im Sprechzimmer der k. u. k. Konsular-Akademie und wartete.
Der längliche Raum mittlerer Größe enthielt einige Möbel im Empire-Stil. Das hohe und schmale Fenster in weißlackierter tiefer Nische mit sparsamen Ornamenten in Gold öffnete sich nach rückwärts gegen den Park. Die präsentable Atmosphäre dieses Kabinettes war derjenigen ähnlicher Empfangsräume in österreichischen Ministerien der damaligen Zeit durchaus verwandt. Analog das gleiche läßt sich von dem Portier sagen, der René hier hereingeführt hatte: eine Kreuzung zwischen langerprobtem Beamten und rasiertem Lakai. Für ihn hatte ein halber Blick unter müden Augendeckeln hervor genügt, um zu erkennen, aus welcher Schachtel oder Schichte der Bub da vor ihm stammte.
Stangeler trug ein Billett seiner Schwester Etelka an den Akademiker Stephan Grauermann (in der Konsular-Akademie aus Afferei ›Prince Coucou‹ genannt) in der Tasche.
Es war sehr still hier. Auf den breiten Gängen draußen rührte sich nichts.
Der Gymnasiast saß in einem der zierlichen Armsessel, hatte die Beine gestreckt und übereinander geschlagen und blickte aus seinen schräg gestellten Augen auf die Spitzen seiner gelben Halbschuhe. Der Gesichtsausdruck Renés war mindestens trübe, wenn nicht geradezu finster. Die ganze Erscheinung des ja fast erwachsenen Burschen wirkte überaus schlank, beinahe spärlich und schmächtig, mit den langen Beinen in braunen Wollstrümpfen und den modischen Hosen eines grauen Sport anzuges.
Die Stille belebte sich plötzlich und gliederte sich zugleich: ein Klavier schlug an, unweit, im selben Stockwerke, wo sich das Sprechzimmer befand, vielleicht nebenan. Der Gymnasiast, ohne sich zu bewegen, lauschte mit größter Aufmerksamkeit, aber sein Gesichtsausdruck erhellte sich dabei in gar keiner Weise, es blieb etwas knotenartig Zusammengezogenes darin: trotzdem er nach einigen Takten schon wußte, was gespielt wurde; nämlich das Vorspiel zu der großen Klaviersonate in Fis-moll von Robert Schumann. Wenige Augenblicke später hörte er jetzt leichte, rasch näherkommende Schritte draußen auf dem Gange hallen. Erst diese zweite Wahrnehmung brachte sein Mienenspiel in Bewegung. Es blieb darin die Aufmerksamkeit stehen, mit welcher er dem Klavierspiel gelauscht hatte, aber zugleich wurde sie offenbar durchkreuzt von dem Bewußtsein des bevorstehenden Eintrittes Grauermanns in das Zimmer hier; diese Zwiespältigkeit ließ jetzt ein Drittes hervorspringen, das man René sogleich hätte anmerken können: denn was nun aus dem Spalt zwischen zweien sich trennenden Empfindungen hervorkam, war ein gar nicht geringer rascher Ärger. Zwischen den Brauen des Gymnasiasten erschien eine ganz unkontrollierte scharfgeritzte Falte.
Sie war gleich beim Eintreten Grauermanns verschwunden. Noch ertönten von nebenan die tiefen Glockentöne des Vorspiels. René hatte sich rasch erhoben, im Entgegengehen zog er den Brief hervor. Der Akademiker reichte dem Gymnasiasten erst lächelnd die Hand. Grauermanns Antlitz machte einen glatten und jugendlichen Eindruck über dem weinroten Kragen und dem dunkelgrünen Rock der Uniform. »Ich danke dir vielmals«, sagte er; sie setzten sich, und Grauermann öffnete und durchflog das Billett. Er nickte erfreut während des Lesens. Indessen war der unbekannte Spieler nebenan ans Ende des Präludiums und in den ersten Satz gelangt, dessen Wirkung auf den Gymnasiasten ganz ersichtlich wurde, während Grauermann ihn freundlich nach seinem Wohlergehen, seinem Studium und ähnlichen Dingen fragte. Die geteilte Aufmerksamkeit Renés, welche bereits nach der Seite des Klavierspieles ein entschiedenes Übergewicht erhielt, ließ ein kaum begonnenes Geplauder absterben, während das nebenan bearbeitete klopfende und fugierte Hauptthema immer stärker den Raum erfüllte.
»Was ist das nur, ich kann mich jetzt nicht besinnen …?« fragte der Akademiker schließlich mit einer Kopf bewegung gegen den benachbarten Raum.
»Schumann, Fis-moll«, sagte Stangeler. »Die Etelka spielt es jetzt«, fügte er nach.
»Ja richtig!« rief Grauermann und schlug sich mit der flachen Hand leicht gegen die Stirn. »Wenn du zuhören willst, gehen wir hinein. Es ist der Teddy Honnegger, der spielt, du kennst ihn ja. Wir müssen nur
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