Die Strudlhofstiege
leise sein.« Er stand auf, Stangeler folgte ihm. Sie gingen wenige Schritte auf dem Gang, dann öffnete Grauermann eine ebensolche weißlackierte hohe Flügeltüre wie jene, welche in das Sprechzimmer führte. Sie bewegte sich ohne jedes Geräusch. Stangeler blickte voraus in den Raum, welchen er noch nie betreten hatte; das Grün des Parkes schien durch drei hohe Fenster zugleich mit einigen Strahlenbündeln der Abendsonne, die in den weißen Fensternischen lag. Grauermann und René blieben bei der nun wieder geschlossenen Tür des Musikzimmers auf dem dicken Teppich stehen; das Klavier, ein Stutzflügel, war gegenüber dem dritten Fenster rechter Hand derart aufgestellt, daß der Spielende ihnen den Rücken kehrte.
Ihr lautloses Eintreten erfolgte in ungewollter und eindrucksvoller Gleichzeitigkeit mit dem Einsetzen des zweiten Themas, das an sich schon für jeden gehörbegabten Menschen einen Chok von Wohllaut bedeuten muß: hier faßte es die ganze Situation – das vergoldete Grün des Parks, die Einsamkeit des Spielenden, die Unbegreiflichkeiten in der Brust eines ganz jugendlichen Individuums, die ebenso unbegreiflichen Gegensätze in der Beziehung zwischen Grauermann und Etelka, ja schlichthin überhaupt alles, auch die jetzt tropfenden eiligen Sekunden vor dem langsameren Hintergrunde des Zeitstroms – jetzt also faßte dieser emporsteigende und sanft kaskadierende zweite Hauptgedanke des Tondichters das gesamte hier gegenwärtige Sein gebändigt zusammen, daß es gleichsam ausfüllend in diese Form einströmte und sie völlig annahm, ohne irgendetwas draußen und außerhalb ihrer zurückzulassen. Für Stangeler war diese innere Lage nicht nennbar, sie wurde aber von ihm durchaus und deutlich empfunden. Diesmal durchbrach die Empfindung sein Antlitz. Man könnte sagen: dieses Gesicht entknotete sich. Es ging ihm gewissermaßen ein Knopf auf, wie man's ja auch zu nennen pflegt, für diese wenigen Augenblicke. In Grauermanns Zügen jedoch, der den Gymnasiasten unvermerkt von seitwärts ansehen konnte, zeigte sich etwas ganz anderes, und das kam aus einer nicht weniger zentralen Kammer seines derzeitigen Lebens: es war die Zuckung eines tiefen und gleichsam nervösen Schmerzes. Für ihn stand beim Anschauen von Renés jugendlicher Physiognomie die Familien-Ähnlichkeit mit Etelka im Vordergrunde, wie es für einen Außenstehenden hier natürlich war (während in der Familie selbst noch niemand zwischen den beiden Geschwistern eine besondere Ähnlichkeit bemerkt hatte). Und jetzt, als die Züge Renés schmolzen, entdeckte er darin eine unwidersprechliche und gleichsam wilde Echtheit der Beziehung zu jener Welt, nicht nur der Musik, nicht nur des künstlerischen‹, wie er's nannte, nicht nur des ›Geistigen‹ überhaupt (wie er's vermeinte nennen zu müssen), wozu ja auch er auf seine Art einen gebildeten Zugang ständig erstrebte: sondern eine Weise sich dem Leben zu nähern, die nicht die seine war, die für ihn vom Leben ganz abseits führen mußte und die sich ihm aufzwang und ihn ver-unechtete, sobald er sich nur in Etelkas Nähe befand, wenngleich er Tag und Nacht nichts anderes suchte als diese Nähe. Durch einige Sekunden jetzt sah er voll Abneigung auf Renés Antlitz, wie ein Gefangener auf die Gitterstäbe des Fensters.
Aber man könnte von Grauermann, dem allerdings im Vergleiche zu seinen Altersgenossen ein hoher Grad von Bewußtheit seines Lebens zu jener Zeit schon eignete, doch nicht behaupten, daß ihm damals irgendwie nennbar geworden wäre, was er in diesen Augenblicken im Musikzimmer der k. u. k. Konsular-Akademie erlebte. Es hätte ihn anders bestimmen können, es hätte sein Handeln lenken, biegen, ablenken können. Aber das geschah freilich nicht.
Etelka Stangeler war zu Dresden erzogen worden, in dem Pensionat eines Fräulein Brandt, ein Institut, das auch sonst nur von Ausländerinnen frequentiert wurde, vorzugsweise von jungen Mädchen aus England. Etelka ist nach einigen Jahren von dort sehr verändert zurückgekehrt. Sie brachte einen Maßstab von Bildung mit, der, wenn auch nur dem Rahmen jenes Unterrichts für junge Damen entstammend, doch ein dem Elternhause fremder war. Man kann nicht einmal sagen, es sei ein besserer oder ein schlechterer gewesen: er war anders, und darauf kam's hier an (wohl möglich, daß Etelka etwas differenzierter geworden war und mehr Nuancen kennen gelernt hatte als in der Familie Stangeler üblich). Jedenfalls hatte sie einen Stützpunkt außerhalb
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