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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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der familiären Befangenheit gewonnen, auf welchen sie sich innerlich bezog. Jedoch lag dieser Sachverhalt in geringer Tiefe, er steckte sozusagen nur in der Außenhaut der Verhältnisse und Umstände, also in einer noch relativ harmlosen Schicht. Was bei Etelka, als einem weiblichen Wesen, viel bedeutungsvoller war und tiefer ging, lag indessen auf der Ebene des Lebens-Stils, einschließlich der damit zusammenhängenden inneren und äußeren Formen und Manieren. Hier setzte sie sich nach ihrer Heimkehr mancher südlichen Nachlässigkeit gegenüber schärfer ab als vielleicht unumgänglich gewesen wäre, hierauf legte sie eine Betonung; und so nahm bei Etelka die Negation der Familie – leider eine Obligat-Stimme bei begabteren Individuen – von dieser Ecke her ihren Anfang. Dahinter stand ein mächtiger Wille, das Erbteil vom Vater: und der schien dieses bei Etelka sozusagen en bloc deponiert zu haben. Das Übrige kann man sich leicht hinzu denken. Denn, mag der Herr von Stangeler immer eine blendende Erscheinung gewesen sein und draußen in der Welt, sei's bei Verhandlungen oder Geselligkeit, jedermann charmiert haben: in seinem familiären Herrschbereich ließ er sich damals, bei jüngeren Jahren, nahezu ohne jede Hemmung gehen, aggressiv, brüllend, trampelnd. In dieser einen Beziehung waren er und seine dritte Tochter wirklich ganz gleich geraten: beide rechte ›Straßenengerln‹, wie man zu Wien sagt: außer Haus entzückend, daheim vielfach unerträglich. Aber Etelka war kein pater familias mit väterlichen Vollmachten und erdrückendem ökonomischem Übergewicht; zudem war sie, wie alle ihre Geschwister, bereits mit korrupten Nerven zur Welt gekommen (in dieser Hinsicht scheint ihr Vater ja das vorhandene Kapital weitgehend verbraucht zu haben, während er es in anderer recht sorgsam sparte). Wenn er leicht schwitzend und mit Schultern, die von ›nervöser Kraft‹, wie Guy de Maupassant das nennt, zuckten, das weitläufige Speisezimmer betrat, den schönen Kopf etwas gesenkt, wie ein Stier, der sich gleich zum Stoße fertig machen wird – dann wurde durch solchen gewaltigen Auftritt auch Etelkas nicht geringer Wille zurückgedrängt und zurückgescheucht. Und wenn – was häufig kam – dann der erste barsche Angriff erfolgte, wurde sie wohl zunächst ihrerseits impertinent, verlegte sich aber bald auf's Weinen und auf einen leidenden Zug.
    Dieser wurde mit der Zeit immer mehr zu derjenigen Form, in welche sie sich vorzugsweise faßte – daheim, versteht sich. Es hat ein Porträt von ihr aus jenen Jahren gegeben, ein Bild von der Hand eines jener Maler, deren kultivierte Begriffe von der Kunst andererseits auch in einem Photographenatelier nicht unangenehm aufgefallen wären (die Geschwister Stangeler wurden damals im Auftrage des Vaters der Reihe nach abgemalt, bis auf die beiden Jüngsten, von denen es schon ähnlich geartete Nachbildungen gab). Jenes Gemälde in Pastell war ganz im Sinne des leidenden Zuges aufgefaßt, wahrscheinlich hat der Maler die Etelka, welche er sonst nicht kannte, nur in diesem psychologischen Kostüm zu sehen bekommen, sehr wahrscheinlich hat sie es sogar eigens zu den Sitzungen getragen, entgegen sonstiger Gewohnheit außer Haus. Die isolierte Wiedergabe dieser einen Facette ihrer Person war jedenfalls von vortrefflicher Genauigkeit, von der Genauigkeit einer naturgeschichtlichen Abbildung. Das fertige Bild machte einen irgendwie verschleierten und verschwommenen Eindruck, wie getrübt durch Dunst oder Nebel oder Zigarettenrauch, und dahinter erst tauchte das recht ennuyierte und trübsälige Gesicht auf, weit ätherischer als Etelka je gelebt hat, die in Wirklichkeit damals eine ganz gesunde Dirn vorstellte (in ihrem späteren Leben hat die Frau Konsul Grauermann allerdings bis zum Selbstmord an Schlaflosigkeit gelitten und am Ende jenen Selbstmord auch wirklich begangen).
    Die äußeren Verhältnisse, unter welchen Etelka Stangeler nach ihrer Rückkehr ins Elternhaus lebte, vor allem die räumlichen Verhältnisse, waren ihrem neuen Separatismus der Familie gegenüber außerordentlich günstig. Das düstere Stadthaus, ursprünglich am grünen Rande des Praters gelegen, jedoch bald von nichts weniger als freundlichen Gassen der wachsenden Stadt allseitig eingemauert, hatte vier Stockwerke; deren unterstes bewohnte bis zu ihrem Ableben die Großmutter des Hauses, eine Architektens-Witwe. Der erste Stock enthielt nur Gesellschaftsräume und das Arbeitszimmer des Vaters;

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