Die Strudlhofstiege
der zweite Stock die Schlafzimmer. Vom dritten Stock genügt es auszusagen, daß er von einer verwandten Architektenfamilie bewohnt war. Architekten über Architekten, denn der Vater Renés war ursprünglich auch ein Architekt gewesen, bevor er angefangen hatte, Eisenbahnen zu bauen. Der Chef der Familie im dritten Stock aber war mit der Schwester von Renés Mutter verheiratet und besaß mit dem Vater Stangeler, seinem Schwager, das Haus zu gleichen Teilen. Eine schon recht weitgehende Verquickung von Genealogie und Baukunst bei gesteigertem und zum Teile sogar höchstgesteigertem Selbstbewußtsein, und nicht ohne breiteste Auswirkung in Form von steifleinenen gotischen Kirchen und enormen Renaissance Angstträumen, womit man gewisse Gegenden der Stadt fast gänzlich verstellt hatte – aber genug, wir wollten ja die äußeren Bedingnisse von Etelkas Sonderdasein studieren.
Der Schlafzimmer im zweiten Stockwerke waren zu wenige. Etelkas Vater mietete eine Wohnung im inzwischen unmittelbar angebauten Nachbarhause, ließ durch die dicke Feuermauer eine Türe brechen und so hatte man im zweiten Stock nun einige Räume mehr. Es waren deren drei; wenn man in dem letzten Zimmer, das noch zum Hause Stangeler gehörte, es war das Frühstückszimmer, die weiterführende Tür öffnete, so gab es da zunächst drei Stufen hinab, denn das Niveau der Stockwerke war nicht gleich; diese drei Stufen fanden gerade innerhalb der Türfüllung Platz, deren Tiefe der Mächtigkeit einer Feuermauer entsprach. Hier nun schlossen sich drei Räume an: zuvorderst ein Kabinett, dann ein mäßig großes Zimmer und am Ende wieder ein Kabinett.
Erst hatten die beiden ältesten Töchter diese Kabinette bezogen und den Raum in der Mitte, wo auch ein Klavier stand, als gemeinsames Wohnzimmer gehabt. Nach der Verheiratung der beiden Mädchen ins Ausland folgten nun Etelka und Asta in den frei gewordenen Zimmern nach; Etelka als die ältere rückwärts, wo niemand durchgehen mußte, und so wirklich im allerletzten Raume des ganzen zweiten Stockwerkes überhaupt, sozusagen in der äußersten Spitze des Bockshorns (in welches man hier durch einen temperamentvollen Vater nicht selten gejagt war).
Nun hatte aber diese neu hinzugenommene Wohnung auch Nebenräume: eine unbenutzte Küche, ein Dienstbotenzimmer (wo zwei von den im Hause Stangeler beschäftigten Dienstmädchen schliefen), ein Vorzimmer, und von da – eine Woh nungstür, die sich auf ein fremdes Stiegenhaus öffnete, durch welches man sogar in eine andere Gasse hinabgelangen konnte, denn dieses Haus hier war ein Eckhaus und hatte seinen Eingang nicht auf der gleichen Seite wie das Familienhaus der Stangeler.
Der Leser hat bereits gemerkt, wo's hinaus will, und die von uns anvisierten Perspektiven haben sich vor ihm längst geöffnet.
Jedoch wurden diese, wenn schon nicht gänzlich verstellt, so doch eingeengt durch eine Persönlichkeit, welche sich Frau Fuček nannte: die Hausmeisterin im Eckhause.
Das Übrige versteht sich von selbst: ob nun vom Blickpunkte Etelkas, Astas oder der beiden schon lange im Hause befindlichen Dienstmädchen (und alle Vier steckten in dieser Sache unter einer Decke), es kam hier wesentlich auf die Relationen zu Frau Fuček an, Relationen, welche wohl sorgfältig gepflegt, jedoch von beiden Seiten durch Vorsicht eingedämmt wurden, auch von Seiten der Frau Fuček (bei aller Lukrativität solcher Sachen), welcher ausdrücklich verboten war, einen Haus-Schlüssel auszuhändigen; was jene sich auch wirklich zu tun nicht getraut hätte, wenn es gleich von ihr verlangt worden wäre (bei den Stubenmädchen mochte sie vielleicht einmal Ausnahmen machen). Aber es wurde von ihr gar niemals verlangt. Soweit exponierte sich niemand, und man ließ also lieber das allerrückwärtigste Schlupfloch, welches aus der Spitze des Bockshorns noch hinaus führte, ab zehn Uhr abends unpraktikabel sein, ja schon zu früherer Stunde, denn das Auge der Fuček bestrich durch ein Guckloch jedwedes Menschen Aus- und Eingang und – »bis neun Uhr dauert die Sittlichkeit, aber um viertel auf zehn beginnt die Stunde des Verdach tes« sagt der Wiener Weltweise Johann Nestroy. Dies alles zusammen aber liefert uns die Erklärung für den angesichts solcher Gunst der örtlichen Umstände befremdenden Sachverhalt, daß Etelka Stangeler bei nächtlichen Exkursionen während jener Jahre den Weg über den ersten Stock zu nehmen pflegte, wo ihr Abendkleid samt Pelz oder Cape in einem riesigen
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