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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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veranlaßte sogar besonders interessierte Nachforschungen, und bei seinem sechsten oder siebenten Wiederkommen, an einem Winterabende war's, folgte ihm das Auge der Fuček sogar um die Windung der Stiege hinauf, von Treppenabsatz zu Treppenabsatz im Abstand eines Stockwerks, und so leise auf Filzpatschen als wären's Fledermausflügel gewesen; denn sie wollte seinen Einschlupf feststellen; und das gelang dann freilich auch; aber fast gleichzeitig damit, beim knappen Wenden um den Treppenabsatz entflog infolge der Zentrifugalkraft einer der saftigen Pantoffel, schlug gegen die Wand, und als der kundige Grauermann sich, allbereits beim Eintritt, auf das Geräusch hin noch einmal umdrehte und in den Stiegenhals schaute, sah er einen grauen Schatten abwärts gleiten und wußte, woran er war. Wir haben ihn früher einen aufgeweckten jungen Mann genannt, und hier nun beweist er's und blamiert uns nicht vor dem Leser. Denn Grauermann blieb diesmal trotz Etelkas Unruhe bis über die Nestroysche Stunde des Verdachtes bei ihr, ja er ging erst etwas nach zehn Uhr weg und das geradezu in der Absicht, in aller Ruhe sich von der Fuček das Haustor aufsperren zu lassen: wobei er das Sperrgeld überschritt, aber in maßvoller Weise, denn er ließ keineswegs einen Gulden, immerhin aber eine Krone in das dargereichte Innere der Fuček'schen Greifklaue gleiten. Solche Praktik wurde von da ab in gemessenen, größeren Zeitabständen wiederholt. Kurz vor zehn Uhr das Haus zu verlassen aber vermied Grauermann nunmehr mit Sorgfalt, der Gefahr einer Aufreizung wegen; und im übrigen kam er ja fast immer am Nachmittage. Summa: der Friede blieb erhalten.
    Es war eine seltsame Welt, die sich dort oben bei Etelka zusammenzog und zusammenbraute, im ›Quartier Latin‹, wie der Vater Stangeler die Wohnung seiner noch daheim verbliebenen Töchter scherzhaft zu benennen pflegte. Und wenn man genau hinsieht, dann bemerkt man freilich so manche Manier des Verhaltens, die später als ausgeprägte, ja schon erstarrte Attitüde in Etelkas letztem Lebensjahre beängstigend wiedergekehrt ist … dieses Dasein hinter zugezogenen Vorhängen, diese façon voilée auch nach inwärts, ohne Schärfe, ohne Umriß, Licht und Schatten: und alles das wieder unterbrochen von anfallsweisen Eskapaden, nächtlichen mit dem Abendkleid im Bowlenkübel, oder sportlichen im Winter: damals kam das Skilaufen in Schwung, und sie war die erste Frau, welche bei einem alpinen Mannschaftsrennen mitfuhr, als einzige Dame ihrer siegreichen Gruppe, schritthaltend mit für damalige Begriffe erstklassigen Läufern. Und dann wieder: tagein tagaus nur türkischen Kaffee und Zigaretten, façon voilée.
    Pista brachte orientalischen Stil. Das hatten die Akademiker an sich, und es wurde ja ständig in die Waisenhausgasse importiert, wenn die Attachés aus der Türkei, aus Arabien, aus Persien oder aus Nordafrika ihre ehemalige Schule wieder besuchten. Und vom Doktor Schopenhauer führte gar ein Weg zur indischen Philosophie hinüber oder zu dem, was Schopenhauer nach seinen Quellen dafür halten mußte, und was sich daher siebzehn Stockwerke tiefer Etelka und Pista darunter vorstellten. Ein Glück, daß Carl Eugen Neumanns Übertragungen der Reden des Gotamo Buddho damals noch nicht erschienen waren; übrigens, wer weiß, vielleicht hätten sie damit gar nicht viel anzufangen gewußt. »Und da freut sich der Mönch«, heißt es dort immer, wenn die Meditation ein kleines Stückchen höher gelangt ist: und weil er sich gefreut hat, der Ärmste, fällt jedesmal alles wieder auf den Nullpunkt zurück! Ich vermute, unsere zwei Mönche hätten sich gleich am Anfange zu sehr gefreut. Pista hatte ein ebensolches türkisches Kaffee-Service zu Etelka gebracht wie es Melzer besaß, man erinnert sich dessen vielleicht. Das waren eben die Gepflogenheiten der Waisenhausgasse, das gehörte dazu, ebenso wie der Halbmond mit dem Stern auf den Hemden, welche die HokeyMannschaft der Akademie trug. Freilich mußte es das damals noch seltenere Hokey sein, denn der Fußballsport war zu Wien schon vorlängst in die Breite gegangen.
    So gab es manches stille und voilierte Beisammensein im ›Quartier Latin‹, und nur, wenn man die Distanz zu klein nimmt, wirken unsere beiden Snöbchen bloß lächerlich; aber ein Blick zurück aus der Formlosigkeit unserer Zeit mit ihrem lebensnahen Getue, das in Wahrheit einer viel tieferen Zerfallenheit mit dem Leben entspringt, rückt hier Schätzbares in die Perspektive.

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