Die Strudlhofstiege
Jene zwei Menschen nämlich machten sich zumindestens ihre Lügen selber, während man heute nicht einmal dazu mehr imstand ist, sondern sich mit diesem Artikel fertig beliefern läßt; naturgemäß ist dann die Ware lange nicht so frisch und elastisch, wie wenn man sie fortlaufend im Eigenbaue erzeugt: hieraus kann man mit der Zeit immer noch ein Sprungbrett zur Wahrheit hinüber gewinnen, während der an den Bezug fertiger Produkte gewöhnte Mensch jene längst nicht mehr zu wittern vermag, mit seiner nur mehr an Benzin und Schmieröl gewöhnten Techniker-Nase.
Und, zudem, was heißt hier Lüge? Sie liebten einander, sie waren mindestens unter starker wechselseitiger Anziehung – die sich, wohl möglich, bei genauester Prüfung als zusammengesetzt aus mancherlei Facetten erwiesen hätte, wie ein Fliegenaug' unter dem Mikroskop, aber schafft eine Analyse jemals ein Phänomen aus der Welt?! – sie waren begabt genug, um ihrem Erlebnis Rahmen, Stil und Parfum zu geben, dabei so ein klein wenig die Regie zu führen, was mir immer noch eine Qualität zu sein scheint gegenüber den Kurzschlüssen, den kürzesten Verbindungen zweier springender Punkte bei unseren grundehrlichen Geradezu-Tramplern von heute. Verlangt man von einem Liebespaare Wahrheit in der Philosophie? Nein, ich weiß schon: man verlangt ein Liebespaar ohne Philosophie. Ich auch. Aber mit der Zeit wird man duldsam. Besser ein Liebespaar mit Philosophie als gar keines. In der Liebe wird alles zur Verzierung, und ließe man die Leute nur gewähren, sie würden die kostbarsten Statuen aller Heiligen durch einen ganz gewöhnlichen Tischler zu Bettpfosten umhobeln lassen und sich dann auf gedachtem Lager schön erhöht und keineswegs beschwert fühlen.
Einen solchen dekorativen Pfosten bildete für unsere Leutchen auch ein gewisser Omar Chajjâm, ein Dichter aus dem arabischen Kulturkreise, der um die Mitte des elften Jahrhunderts in Indien gelebt hat und auf geheimnisvolle Weise von diesem Boden her durchsetzt worden ist. Seine Sinngedichte, Rubâ'is genannt, sind zuerst ins Französische und Englische übertragen worden und haben sich weiterhin durch mehrere europäische Sprachen verbreitet. Die Ausgabe, welche Grauermann seiner Etelka gebracht hat, war von außerordentlicher Schönheit, in tiefgrünes Leder gebunden, welches keine andere Verzierung trug als einen arabischen Säulenbogen in Gold, feinen Striches in's Leder gepreßt, eines jener maurischen Tore, die an gewisse Blattformen erinnern und überall an den orientalischen Bauten angetroffen werden können (jemand hat das einmal recht populär den ›Schwarzen-Kaffee-Stil‹ genannt). Die Epigramme standen einzeln, auf jeder Seite des Buches nur eines, was bei dem kompressen Inhalt dieser Vierzeiler berechtigt schien, denn sie gewannen auf solche Weise sozusagen genug Raum zu einer Art Explosion, mit welcher sie nicht nur die Gedanken des Lesers erfüllten, sondern gleichsam auch den freibleibenden Teil des Blattes überschwemmten. Diese kleinen Gedichte verhielten sich in Wahrheit wie der überquellende Inhalt einer vollgepfropften Schatulle, deren Deckel man hat springen lassen.
Das war freilich noch wirksamer als der Doktor Schopenhauer. Denn Talent zum Lesen hatte man genug, besonders die Etelka.
So Seltsames geht in einer großen Stadt vor; in einer großen, südlichen, deren schon im Mai heißer Himmel seine Bläue wie knatterndes Fahnentuch in die bunten und belebten Gassen knallt. Omar Chajjâm. Etelka rauchte nur ganz kleine dünne Zigaretten, auf welche eine Trompete in Gold gedruckt war. ›Figaro‹ hießen sie. Eine solche große Stadt in ihrem vielen Lärm und Lichte ist zu beneiden um die duftigen, gepflegten, geheimen Hohlräume, welche sie enthält, wie verborgene, voilierte Kammern ihrer Seele.
Und die stille Kühle in den Stiegenhäusern. Man kann sagen, man betrat sie nicht einfach von der Straße: man schied vielmehr von der Straße ab.
Etelka lag auf einer kleinen Chaiselongue, neben welcher Grauermann am Boden hockte, und hier stand auch die getriebene Kupferplatte mit dem Kaffee-Service aus Mostar (das war für einen Österreicher damals noch ein inländisches Erzeugnis).
Sein Gesicht war, wie es Etelka oft schien, unsagbar jung und glatt und das beängstigte sie nahezu. Dabei war es ein elegantes Gesicht: eine ganz gerade Stumpfnase, von der bereits zwei feine scharfe Striche zu den Mundwinkeln liefen. Die graublauen großen Augen strahlten Sauberkeit und eine
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