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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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nicht nur die Formen der Sprache beschreibt, sondern auf die Idee der Sprache überhaupt hinweist. Einigen wir uns etwa so: vor der Musik und vor der Sprache war die Harmonielehre und war die Grammatik. Nach den Musiken und nach den Sprachen entstanden die Lehrgebäude der Harmonielehren und der Grammatiken.«
    So also hatte man sich dort unterhalten. Als Honnegger mit Grauermann auf den Gang trat, da sie in ihre Zimmer hinaufgehen wollten, flog ihn eine plötzliche Bedrücktheit an – in Bezug auf Pistas Zukunft. Dieser schien mit der Art, wie sich sein künftiger Schwager, von ihm gewissermaßen vorgeführt, hier eingeführt hatte, zufrieden. »Origineller Kerl, was?« bemerkte er beiläufig, während sie über die breite Treppe stiegen. »Unzweifelhaft«, sagte Honnegger. Ihn hatte es wie ein Pfeil getroffen, die Widerhaken hielten fest. Er war unvermutet und auf einem seltsamen Umwege zu einer anschaulichen Vorstellung von der Etelka Stangeler gekommen und wußte freilich jetzt auch, daß sie ihm seit jeher beinahe unsympathisch gewesen war. Aus einer nichtssagenden, nur halb in's Bewußtsein gelangten Fassade und Photographie schien jetzt ein Porträt, ja eine Plastik geworden zu sein. Es verließ ihn durch einige Tage nicht, und so ist's auch gekommen, daß er – damals der einzig Besorgte unter so vielen Sorglosen, was diese Sache betraf! – sich sogar kurz danach diesbezüglich mit einer flüchtigen Bemerkung geäußert hat, nämlich Herrn Stephan von Semski gegenüber, im Café Pucher: und dabei innerlich sein Heraustreten mit Grauermann aus dem Musikzimmer mit der weißlackierten Flügeltür vor Augen.
    Währenddessen war René an die Ecke der Strudlhofgasse gelangt und dort stehen geblieben. Eine schräge Sonne lag überall noch, wo sich ihr Fläche bot, wie ein dicker poröser Teppich. Hier nun, an der Ecke, erstreckte sich das Sonnenlicht in die Lücke und auf die Baumwipfel dahinter. Rechterhand standen glatt und verschlossen die Bauten der Universitäts-Institute für Physik und Radiologie, unbegreiflichen Inhalts, und hauchten jene neue Art von Romantik, die gerade von den allerexaktesten Wissenschaften am meisten ausgeht, als würde deren Wesen in ihrer Emanation gleichsam ins Gegenteil verkehrt.
    Die Richtung, in welcher René Stangeler ging, hatte mit seinem Heimwege keinen Zusammenhang. Diese Richtung hätte sich nur mit ›nicht-nachhause‹ bezeichnen lassen. Die Verfassung subjektiver Trunkenheit, in der sich René befand, wird man einem Jüngling für angemessen halten. Aber das Lebensalter hat in diesem Falle hier viel weniger zu bedeuten, als man auf den ersten Blick vermeinen möchte. Auch den erwachsenen Mitgliedern der Familie eignete die gleiche Verfassung, und zwar als Grundlage ihres Alltags. So wie René jetzt bei seinem Gange zur ›Strudlhofstiege‹ nichts Geringeres erwartete als das Außergewöhnliche: so hielten auch seine Geschwister dieses für eine ihnen sozusagen jederzeit zukommende Gebühr und für einen zu beanspruchenden Maßstab ihres Lebens; vor jedem anderen scheuten sie zurück. Und diese Menschen, die manches vermochten, hätten doch eines unmöglich fertiggebracht: nämlich ganz gewöhnliche Menschen zu sein.
    Nun endete die Straße. René stand am Beginn der Stufen.
    Stangeler kannte seine Vaterstadt verhältnismäßig wenig und diese Gegend hier fast gar nicht. Nächtliche Exkursionen, die er, ebenso wie seine Schwester Etelka, jedoch allein, schon damals nicht selten unternahm, führten ihn immer wieder nur in die Bars und Cafés des ersten Bezirkes, also der inneren Stadt, oder in die Artisten-Lokale der seinem Elternhause nahegelegenen Praterstraße. Die kleine Überraschung, welche Stangeler jetzt am oberen Ende der ›Strudlhofstiege‹ empfand, paßte in seinen romantischen Kram, setzte gleichsam das i-Pünktchen noch auf seine ganze Stimmung, welche durch den geringen Anlaß eine unverhältnismäßige Steigerung erfuhr. Hier schien ihm eine der Bühnen des Lebens aufgeschlagen, auf welchen er eine Rolle nach seinem Geschmacke zu spielen sich sehnte, und während er die Treppen und Rampen hinabsah, erlebte er schnell und zuinnerst schon einen Auftritt, der sich hier vollziehen könnte, einen entscheidenden natürlich, ein Herab- und Heraufsteigen und Begegnen in der Mitte, durchaus opernhaft.
    Kurz: eine jener Szenen, die man nur von der Bühne in Erinnerung hat, die es aber im Leben – wirklich gibt, wenn auch selten; und dann kommen sie völlig

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