Die Strudlhofstiege
unvermutet zustande. Und erst hintennach erkennt man sie als solche.
René stieg langsam hinunter, mehr genießerisch als nachdenklich.
Am Abhang drängten sich die Kronen einiger Bäume. Die Stiegen leiteten sanft, aber überraschend tief hinab. Es roch hier erdig.
Unten kommt man in die Liechtensteinstraße, und Stangeler folgte ihr nach links, wo sie alsbald bei einem Wirtshause, das sich ›Zur Flucht nach Ägypten‹ nennt, in eine breitere Verkehrs-Ader mündet. Diese war nun René freilich bekannt und im Augenblicke störte ihn das, als fiele eine seitliche Helligkeit in seinen Traum, den er jetzt wie einen Mantel um sich zusammenzog, als striche da ein Zugwind herein. Er überquerte rasch die Alserbachstraße und ging in der stark verengten Liechtensteinstraße weiter.
Diese Gasse schien die Grenze zweier sehr verschiedener Stadt-Teile zu sein, die einander über die geringe Breite hin als Fremde anblickten. Und zwar der eine Teil auf den ande ren von oben herabschauend: denn erstens stieg das Terrain, auf welchem die Häuser gebaut waren, nach links zu an, wie die ganze Gegend, und zweitens befanden sich auf dieser Seite der Gasse neue billige Gebäude von vier und fünf Stockwerken, während die rechte Zeile meist aus einstöckigen Häuschen bestand, von denen wenige viel jünger sein mochten als hundert Jahre. Dieser Stadt-Teil wird ›Liechtenthal‹ genannt, er ist die engere Heimat Franz Schuberts, welcher in der Liechtenthaler Pfarrkirche einst Organist gewesen ist. Aber derartige Dinge wußte René Stangeler nie, und er hätte sie auch jetzt gar nicht gerne vernommen. Er war ein wohl intensiver aber wesentlich ungebildeter Mensch, man könnte sagen im Grundbau seines Wesens das strikte Gegenteil eines Produkts, wie etwa jener Major und spätere Oberst Laska, der den Leutnant Melzer einst auf die Bärenjagd mitgenommen hat.
Von der Gasse zweigte nach rechts ein Gäßchen. An dem einen Eckhause bemerkte Stangeler jetzt in geringer Höhe, über dem Erdgeschoß am ersten Stockwerk, ein in blauer Glasur ausgeführtes rundplastisches Bildwerk, welches ein Einhorn darstellte. Er blieb in der halben Breite des Nebengäßchens stehen und schaute zu dem Einhorn hinauf, als er hinter sich Schritte hören konnte, welche nun langsamer wurden und anhielten.
René wandte sich herum und erblickte ein etwa siebzehnjähriges Mädchen in bescheidenem grauen Tuchanzug und eine Aktentasche unter dem Arm.
Er lachte im selben Augenblicke, und dieses Lachen war sehr geschickt und stellte die Verbindung, welche er sofort suchte, mühelos her: denn sie blickte, gleichfalls lachend, zu dem Einhorn hinauf und sagte:
»Wissen Sie eigentlich, was das da für ein komisches Viech ist?«
»Ein Einhorn«, antwortete Stangeler. Er sah jetzt, daß sie dunkelrote Haare hatte, die anmutig unter dem grauen flachen Hut ihre Schläfen umgaben. Diese selbst waren sehr weiß, bleich und glanzlos wie ihr Antlitz, in welchem die Augen etwas schräg standen (ähnlich wie bei René selbst, aber das kam ihm freilich nicht zu Bewußtsein). »Hat's denn so was einmal gegeben?« fragte sie.
»Ja – wahrscheinlich«, sagte Stangeler und dachte an Julius Cäsars Berichte über das alte Germanien. »Aber, liebes Fräulein«, fügte er gleich nach und war dabei gut im Zuge, so daß alles höchst natürlich und ganz harmlos herauskam, »wenn ich Ihnen mehr davon erzählen dürfte, würde es mich sehr freuen – nur möcht' ich das gerne in der großen Conditorei auf der anderen Seite von der Alserbachstraße tun. Ich muß nämlich jetzt unbedingt eine Jausen haben. Darf ich Sie einladen? Dort gibt's herrliche Indianerkrapfen.«
Er hatte, nach dem Überschreiten der Schwelle zwischen dem Knaben- und dem Jünglingsalter, schon so etwas wie eine mechanistische Sicherheit im Umgange mit weiblichen Wesen erlangt, mit welchen er übrigens im springenden Punkte nahezu vertraut war. Irgendwelche, wenn auch entfernte Chancen letzterer Art, wurden von René auf gar keinen Fall außer acht gelassen: und schon hier, in dieser frühen, ja ersten Auswahl zeigte sich bei ihm die gelegentliche Neigung aller Stangelers für das Gutartige, das Gutmütige und, wie sie vermeinten, das geistig Unterlegene, beides als Resonanzboden des eigenen Wertgefühls benötigt, mit welcher Würze sie wohl das oder jenes Erlebnis besser genießen konnten, so wie etwa man chen Leuten Muskatnuß oder Curry bei gewissen Speisen als unentbehrlich erscheinen.
Unser Paar war
Weitere Kostenlose Bücher