Die Strudlhofstiege
inzwischen über die breite Straße und in die Conditorei gelangt, wo es sich nichts abgehen ließ, denn René war trotz seines geringen Taschengeldes bei Kasse. Hierzu diente ihm ein vergessener großer Bücherschrank im zweiten Stockwerk seines Elternhauses, der im Winkel eines Vorraumes stand, mit sämtlichen Romanen der Achtzigerjahre wüst vollgepfropft, vornehmlich mit den Werken eines gewissen Georg Ebers, ausgezeichnet durch Leinen und Goldschnitt. Diesen Bücherkasten höhlte René, von ganz rückwärts beginnend, nach und nach aus, wie die Termiten in Afrika Bäume von innen her aushöhlen. Seine Beziehungen zu mehreren Altbuchhändlern waren geregelte.
Jedoch statt nun in der gewohnten Weise seinen Musterkoffer des Interessanten und Originellen auszupacken und gleichsam seine Schaufenster zu arrangieren, überkam ihn hier an dem kleinen Marmortischlein, aus der Gelöstheit und Leichtigkeit dieses Nachmittages, etwas ganz anderes; eine souveräne Trägheit nämlich gegenüber jenem Automatismus, der spielen sollte, um einem Mädchen zu imponieren. Es war René ganz unmöglich, sich um diesen Anlaß herum jetzt zusammenzukrampfen, und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben empfand er Gleichgültigkeit gegen den Eindruck, den er etwa machen oder nicht machen würde. Diese Empfindung – vergleichbar jener eines Sitzenden, den ein allzu tiefer und bequemer Fauteuil vom Aufstehen abhält – war sehr deutlich, und sie war ihm neu. Er begrüßte sie mit einer tiefen Freude und mit dem bemerkenswerten Wunsche, immer so zu leben.
»Und was ist mit den Einhörndln?« fragte sie und setzte die Schokoladentasse ab.
»Ja – die Einhörner«, sagte René und sah das Mädchen an und weiter nichts.
»Mir scheint, Sie wollten nur jausnen und das Erzählen ist Ihnen jetzt zu fad«, meinte sie lachend.
»Mir ist gar nicht fad«, erwiderte er mit einer sozusagen bedeutungsvollen Betonung, und umfaßte, ruhig vor sich hinblickend, ihren Kopf vor dem Hintergrunde der ab und an bewegten Straße dort draußen hinter der großen Glas-Scheibe. »Ja, also die Einhörner, oder die Einhörndln, wie Sie so herzig sagen, die hat's aller Wahrscheinlichkeit nach gegeben. Im vorigen Jahrhundert, da hat man alles für reinen Unsinn und für bloße Fabeln und Sagen gehalten, was in den von der Wissenschaft einmal aufgestellten Rahmen nicht gepaßt hat, aber seitdem sind doch viele neue Viecher noch entdeckt worden, und heute glaubt man überhaupt nicht mehr, daß es ganz reine Fabelwesen gibt. Alles geht auf irgendeine Wirklichkeit zurück, die Basilisken, die Drachen und die Einhörner.« »Sie sind Student?«
»Ja. Das Einhorn war ein wildes und böses Tier, das einsam in unzugänglichen Wäldern lebte. Aber man konnte es leicht fangen.«
»Wieso denn?« fragte sie, mehr erstaunt als schnippisch; die letztere Tonart schien ihr überhaupt nicht gut zu liegen, sondern nur eine künstlich vorgeschobene Außenbefestigung ihres Wesens zu sein, übernommen und imitiert, zur raschen Selbstverteidigung.
»Man mußte eine Jungfrau dazu haben«, sagte Stangeler, »aber eine wirkliche.« Er empfand eine gewisse Hilflosigkeit ge genüber dieser jetzt eintretenden Weichenstellung im Gespräch, welche aus dessen Gegenstande selbst sich ergeben hatte, und er sah jetzt dieser Wendung in's Anzügliche zu – die er sonst immer bald und gewohnheitsmäßig herbeiführte – mit dem Bewußtsein, augenblicklich nichts dagegen machen zu können. Es war wie eine kleine Lähmung. Und aus dieser heraus beobachtete er, als ein durchaus Erwartetes, wie ihr Mund – kein Mäulchen, sondern ein ziemlich breiter Mund – sich verzog, schief und ihrem Schwanken entsprechend zwischen ihrer eigentlichen Art und den nachgeahmten und eingefahrenen Gebärdenspielen ihrer Altersgenossinnen.
»Und was hat die Jungfrau mit dem Einhörndl gemacht?« »Sie brauchte sich nur in den Wald zu setzen, wo das Einhorn lebte – da ist es bald gekommen, vor ihr in die Knie gesunken und hat seinen Kopf ganz zahm in ihren Schoß gelegt. Und dann hat man es binden und wegführen können, und es hat sich nie gewehrt.«
»Gehn S', das ist doch alles gar nicht wahr«, sagte sie jetzt, indem sie ihrerseits sich doch wehrte, gegen ein Gefühl nämlich, das ihr bedeuten wollte, sie sei hier unvermutet dazugekommen, etwas ganz Neues und Reizvolles zu berühren: durch den kleinen Zufall, daß sie gut aufgelegt gewesen war auf dem Heimwege vom Büro ihres Chefs (eines Advokaten, wo
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