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Die Strudlhofstiege

Die Strudlhofstiege

Titel: Die Strudlhofstiege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heimito von Doderer
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sie stenotypierte seit zwei Jahren), weil eine schwierige Causa beendet und gewonnen, viel Arbeit getan war und der Doktor – freilich auch in guter Laune – sie sehr gelobt und ihr eine nicht unwesentliche Aufbesserung der Entlohnung zugesagt hatte: und aus solcher guten Laune hatte sie den jungen Buben da vor dem Haus ›Zum blauen Einhorn‹ ohne weiteres angeredet, schon immer neugierig, was denn dieses blaue Schaf eigent lich für ein Viech gewesen sei. Aber jetzt, und nicht zum mindesten dadurch, daß Stangeler jene offene Weiche in der Bahn des Gespräches ganz unbefahren ließ, fühlte sie prickelnd und ziehend von einer leisen Sehnsucht die Grenze eines neuen, ja für sie geradezu jenseitigen Terrains, und ein Wind fuhr durch ihr Gemüt, der alle je gelesenen Romanbücher rauschend in ihr aufblätterte.
    So saßen diese beiden Kinder sehr verschiedener Ufer und Zonen bei Schokolade und Indianerkrapfen – Stangeler übrigens trank Kaffee und rauchte eine Zigarette, was sonst in Conditoreien nirgends gern gesehen wird, aber die Ladnerin hatte es ihm gestattet, denn es war kurz vor dem abendlichen Geschäftsschluß. Längst lag draußen die Straße in ein feines, gleichmäßiges Grau getaucht, darin die ersten Lichter schwammen, müde alles, wenngleich noch belebt, wund vom Tage. Und längst hatte Paula Schachl ohne eigentlichen Übergang von sich selbst zu sprechen angefangen: von ihrem Chef und dem großen zu Ende gegangenen Prozess (eine Automobilfabrik contra ihren Holzlieferanten, also für Stangeler eher abseitig), von dem Lob, das ihr heute zu Teil geworden war nach all der vielen Arbeit oft bis neun und zehn Uhr abends, von ihrer Tante, bei der sie wohnte (übrigens hier in Liechtenthal) und endlich von einem Arzt, Doktor Brandeis, der sie im Allgemeinen Krankenhaus in der Ambulanz behandle, gestern sei sie wieder dort gewesen, ein sehr lieber Herr und überaus sorgfältig. Sie hatte sich im Winter bei Glatteis durch Umkippen des Fußes den linken Knöchel übertreten und irgendwas an den Bändern getan.
    Sie verließen die Conditorei und schritten gegen jenes alte Stadtviertel zu; Paula hatte ihre Erzählung dabei kaum unter brochen. Sie kam jetzt auf verschiedene Freundinnen und Bekannte, die anscheinend alle hier in dieser Gegend wohnten; und am Sonntag-Vormittag schien es auf der Nußdorferstraße eine Art üblichen Bummel zu geben, wo man sich gegenseitig antreffen konnte. Auch René stand jetzt an der Grenze einer sozusagen anderen Welt, die ihm nicht ohne Behagen zu sein schien, und sah da hinein: sogar verlangend, aber nur ganz beiläufig und wie aus dem Augenwinkel. Er hatte die unklare Empfindung, daß man dort leichter, besser und recht eigentlich vernünftiger lebte. Aber dies war das einzige, was er von Paulas Erzählung gegenständlich und wirklich in sich aufnahm. Denn sonst hörte er zu, als ob sie ohne Worte sänge: ein langes Lied nach einer kleinen Melodie mit dann und wann wiederkehrenden Ritornellen, ein Lied, das sich gleich blieb und stand oder schwebte, wie gewisse Insekten, die mit einem singenden Ton an der gleichen Stelle schweben, also in der Luft stehen können. So stand das gleichmäßige Lied mit den Ritornellen jetzt vor dem Hintergrunde der breiten Straße, und dann schwebte es dort, wo die hohen, billigen Häuser und die alten kleinen Häuslein gassenüber standen, und dann in der Gasse, an deren einem Eck sich das blaue Einhorn befand. Indessen dies alles, wie es da in den schon dunklen Abend versank und zwischen den Schnüren von Lichtern zur unbeweglichen oder von Bewegung durchkreuzten Masse wurde, enthielt tief rückwärts eine erleuchtete Pforte wie einen Goldgrund: die Stiege! die Strudlhofstiege, die Lebensbühne dramatischen Auftrittes, mit Pauken und Trompeten, und gerade darauf, ja nur darauf bezog sich letzten Endes für Stangeler Paulas kleiner Gesang. Ihr leises, ein wenig raunzendes ›Solo‹, von jener besonderen Unbewegtheit wie sie etwa dem Klange des englischen Horns eignet, vollzog sich mit seinem einsamen Gang vor der dahinter aufgerissenen goldglänzenden Schlucht wie grundiert vom gewaltigen ›Tutti‹ eines Orchesters: wovon sie, wie Stangeler vermeinte, keine Ahnung haben konnte, und eben das schien ihm dabei wesentlich und rührend. Aber René irrte sich. Wie das Vage und Beiläufig-Romantische über ihn Macht hatte, so auch über sie, in welcher die Blätter einer chaotischen Lektüre rauschten. Über das beiderseitige Niveau wollen wir

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