Die Sündenheilerin (German Edition)
Haube vom Kopf und öffnete ihr Haar. Die seidigen goldbraunen Strähnen flossen ihr bis über die Hüfte und verliehen ihr etwas Mädchenhaftes. Das Verhalten der Gräfin erstaunte Lena immer mehr. Was, wenn der Kaplan plötzlich auftauchte und Elise mit offenem Haar entdeckte? Es schickte sich nicht für eine verheiratete Frau, ihr Haar offen wie eine Jungfer zu tragen. Oder war es Männern verboten, diesen Garten zu betreten?
»Ich wollte Euch ja von meiner Hochzeit erzählen. Nun, an jenem Abend verstand ich noch nicht, warum die Regensteiner so grinsten. Ich begriff auch nicht, warum die Mägde tuschelten, als wir uns ins Brautgemach zurückzogen. Dietmar war ein zärtlicher Mann, aber er war nicht in der Lage, die Ehe zu vollziehen. Das begriff ich jedoch erst sehr viel später. Ich dachte wirklich, die Liebkosungen, die wir austauschten, seien alles, was zum Vollzug der Ehe gehöre.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über Elises Züge. »Durch seinen Unfall im Jahr zuvor hatte er seine Manneskraft eingebüßt. Es gab schon lange derartige Gerüchte, vor allem weil er sich seitdem von den Mägden fernhielt. Aber es durfte nichts nach außen dringen, die Regensteiner hätten es sofort zu ihrem Vorteil genutzt. Und so wurde unsere Ehe beschlossen. Niemand konnte einem verheirateten Mann Übles nachsagen, wenn er sich einzig seiner Frau zuwandte. Zudem glaubte Dietmars Vater damals noch, es handle sich nur um einen vorübergehenden Zustand der Zeugungsunfähigkeit.«
Gebannt beobachtete Lena, wie Elise ihr Haar neu flocht. Geschickt, mit ruhigen, flinken Händen.
»Ihr erzählt heute sehr freimütig. Warum?«
»Warum nicht? Ihr habt mir doch versichert, dass alles, was ich Euch anvertraue, bei Euch bleibt. Oder seid Ihr nicht mehr bereit, zu Eurem Wort zu stehen?« Elise schaute Lena beinahe treuherzig an. Wie ein Kind, das keine Ahnung von den Gefahren der Welt hat. Ihr Misstrauen war vollständig verschwunden. Nie zuvor war Lena einem Menschen begegnet, dessen Verhalten sich so schnell ins völlige Gegenteil verkehrt hatte. Und doch spürte sie Elises Aufrichtigkeit, und der ganze Zorn, den sie der Gräfin gegenüber verspürt hatte, war verflogen. Elises plötzliche Offenheit, ihre Art, sich über die Zwänge ihres Standes hinwegzusetzen, rangen Lena nicht nur Anerkennung ab. Sie empfand immer mehr Zuneigung für die junge Frau.
»Aber der Zustand Eures Gatten blieb dauerhaft, nicht wahr?«
Elise nickte. »So ist es. Nach dem Tod seines Vaters und dem Anschlag auf sein Leben fühlte er sich nicht mehr sicher. Er brauchte einen Erben.«
»Das allein hätte ihn doch nicht vor weiteren Mordanschlägen bewahrt.«
»Dietmar dachte anders. Man wagte sich erst an ihn heran, nachdem sein Vater tot war. Wenn er einen Sohn oder auch nur eine Tochter hätte, der man das Lehen später als Mitgift übertragen könnte, wäre er sicherer, denn dann läge auch meiner Familie viel daran, das Erbe zu erhalten. Wenn er jedoch stürbe, bevor ich ein Kind hätte, würde mir ein Witwenanteil ausgezahlt, und ich könnte mich in ein Kloster oder auf die Burg meiner Eltern zurückziehen.«
»Hatte er keine Angst, man könnte auch das Kind ermorden?«
»Das weiß ich nicht. Dietmar war so verzweifelt, dass er seine ganze Hoffnung in einen Erben setzte.«
Ein Rascheln in der Hecke schreckte Lena auf.
»Was war das?«
»Vermutlich ein Vogel.« Gelassen nestelte die Gräfin ihren Zopf zusammen und setzte die Haube wieder auf. »In der Hecke brüten oft Amseln.«
Sie fühlte sich in ihrem Garten vollkommen sicher.
»Wie habt Ihr Martin kennengelernt?«, fragte Lena. Hatte Elise sich nur des Ehebruchs schuldig gemacht, um ihren Gatten zu schützen? Um ihm das zu geben, was er selbst nicht vermochte?
»Das ist eine lange Geschichte.« Die Gräfin schlüpfte wieder in ihre Schuhe. »Und ich weiß nicht, ob Ihr sie wirklich erfahren wollt.«
»Ich würde nicht fragen, wenn ich sie nicht hören wollte.«
»Nun gut.« Elise atmete tief durch. »Ich hatte mich schon damit abgefunden, niemals ein Kind zu empfangen, aber Dietmar ersehnte sich einen Erben. Einen Erben von seinem Blut, obgleich er ihn niemals würde zeugen können. Und so besann er sich auf einen alten Fehltritt seines Vaters.« Elise kicherte. Lena stutzte. Das passte überhaupt nicht zu Elise. So benahmen sich kleine Mädchen oder dumme Mägde wie Hanne. Hatte die Gräfin etwa getrunken? Aber dann hätte sie nach Wein riechen müssen. Unauffällig schnupperte Lena
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