Die Sünderin
Schwester darin sehen. Bis an das Ende deiner Tage wirst du dich fragen müssen: War es das wert? Wie konnte ich meine Schwester sterben lassen für einen flüchtigen Genuss? Und dann einen so furchtbaren Tod.»
Ich habe das geglaubt. Ich habe es tatsächlich geglaubt. Und ich hatte so wahnsinnige Angst. Bis dahin hatte ich nie nachgedacht, wie es bei uns weiterginge, wenn Magdalena nicht mehr da wäre. Jetzt tat ich das. Ich schaute mir das Bett an, wie Mutter es verlangt hatte. Und ich dachte, dass sie mich in ihrem Schlafzimmer einsperren wollte, damit ich das leere Bett mein Leben lang sehen könnte.
Mutter fuhr mit einem Taxi zurück nach Eppendorf. Ich blieb allein im Haus. Im Schlafzimmer eingesperrt hatte sie mich nicht. Als Vater am Abend heimkam, war ich im Wohnzimmer. Ich hatte mir die Kerzen angezündet, den ganzen Nachmittag auf der Holzbank gekniet und dem Erlöser versprochen, dass ich nie wieder irgendetwas haben wollte. Angeflehthatte ich ihn, er solle mich tot umfallen und meine Schwester in Ruhe lassen. Und als ich nicht tot umfiel, hatte ich gedacht, ich müsste Mutter zeigen, welch große Opfer ich bringen könnte. Ich wollte meine Hände verbrennen wie das blaue Kleid mit dem weißen Kragen, damit ich nie wieder etwas Süßes anfassen konnte. Aber als ich sie über die Flammen hielt und der Schmerz stärker wurde, hatte ich die Hände wieder fortgezogen. Es hatte nur ein paar Blasen gegeben.
Vater war entsetzt, als er sie sah. Er wollte wissen, was Mutter gesagt hatte. Ich erzählte es ihm. Zuerst wurde er wütend und schimpfte fürchterlich. Die blöde Kuh! Die ist doch krank! Und solche Sachen. Dann ging er zu Grit Adigar, um mit der Klinik zu telefonieren und den Ärzten zu sagen, dass er es sich anders überlegt hätte. Dass sie Magdalena behandeln mussten. Und wenn sie dazu nicht bereit wären, werde er sie anzeigen und Magdalena in eine andere Klinik bringen.
Als er zurückkam, war er sehr still. Er kochte für uns. Eine Suppe mit grünen Bohnen aus einem Einweckglas, etwas anderes war nicht im Haus. Dann setzte er noch einen kleineren Topf auf den Herd und goss Milch hinein. Milch war immer da. Für Magdalena. Ich mochte keine. Auf Milch zu verzichten fiel mir leicht. Aber ich tat jedes Mal so, als ob es ein großes Opfer wäre. Ich war als Kind so falsch, so verlogen, so verdorben.
Vater zog eine kleine Tüte aus seiner Hosentasche und lächelte mich an. «Mal sehen, ob ich das kann», sagte er. Es war Puddingpulver. Er hatte Grit darum gebeten. Er hatte gesagt: «Ich muss ihr begreiflich machen, dass sie essen kann, was sie will. Gerade jetzt muss ich. Aber was mache ich mit Magdalena? Es wäre das Beste, wir ließen sie in Frieden sterben. Diese Behandlung ist eine Folter. Die Ärzte haben es mir ausführlich erklärt. Sie kann das nicht überstehen. Und dann werde ich mit dem Gedanken leben müssen, dass sie aufmeine Veranlassung zu Tode gequält wurde. Aber ich muss es tun – für Cora.»
Später hat Grit mir das erzählt, erst viel später. Aber ich wusste immer, dass Vater mich liebt. Und ich liebte ihn auch. Ich liebte ihn so sehr.
Wir blieben damals lange allein, ein halbes Jahr. Es war eine schöne Zeit, die schönste, die ich hatte. Bevor Vater morgens zur Arbeit fuhr, machte er mir Frühstück mit Kakao, gekochten Eiern und Wurstbroten. Er gab mir auch immer einen dicken Apfel oder eine Banane mit für die Pause.
Wenn ich mittags heimkam, ging ich zu Grit, spielte nachmittags mit Kerstin und Melanie. Wenn wir bei ihnen zu Hause waren, waren sie immer nett zu mir. Da sagten sie sogar manchmal, dass es ihnen Leid täte wegen der Pause.
Am schönsten war es, wenn Vater am späten Nachmittag heimkam. Er putzte die Fenster und wusch die Gardinen, ich wischte Staub und fegte die Küche. Und alles sah blitzblank aus. Wenn wir sauber gemacht hatten, kochte er für uns. Es gab jeden Tag Fleisch oder Wurst und jeden Tag einen süßen Nachtisch. Nach dem Essen blieben wir in der Küche. Vater erklärte mir, dass Magdalenas Krankheiten nicht besser und nicht schlimmer wurden, wenn wir Pudding aßen. Er versprach auch, mit Mutter zu reden, damit sie mich ein normales Kind sein ließe.
«Es reicht», sagte er einmal, «wenn in diesem Haus der verzichtet, der für das Übel verantwortlich ist. Ich habe mir fest vorgenommen, das zu tun. Gebe Gott, dass ich es schaffe.»
Ins Wohnzimmer gingen wir immer erst, bevor wir uns schlafen legten. Vater zündete nie Kerzen an. Wir knieten
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