Die Sünderin
im Dunkeln vor dem Altar und beteten für Magdalena. Mutter hatte verlangt, dass wir es tun. Aber wir hätten es auch freiwillig getan, glaube ich.
Ein paar Mal fuhr Vater sonntags in die Klinik. Mich nahmer nicht mit. Ich durfte nicht in Magdalenas Nähe kommen, weil ich wieder eine an sich harmlose Krankheit hätte zu ihr tragen können. Die Behandlung, auf der er wegen mir bestanden hatte, war ja erfolgreich. Aber Magdalena war so schwach geworden, an einem Schnupfen hätte sie sterben können.
Wenn Vater sie besuchte, war ich nebenan. Ich bekam Kakao und frischen Kuchen mit Zuckerstreuseln. Ich war glücklich, unendlich glücklich. Vor allem, wenn Vater aus der Klinik zurückkam, wenn er sagte: «Es sieht so aus, als ob sie es schafft. Sie besteht nur noch aus Augen. Die Ärzte sagen, sie hat einen unbändigen Lebenswillen. Man könnte fast meinen, sie pumpt das Blut nur noch mit ihrem Willen durch die Adern. So ein kleines, schwaches Menschlein, hat nicht genug Kraft im Leib, um den Kopf zu heben. Man begreift es nicht. Aber am Leben hängen sie alle.»
Im Dezember kamen sie wieder heim. Magdalena hatte keine Haare mehr. Sie war so schwach, dass sie nicht abwarten durfte, bis sie von allein musste. Mutter machte ihr jeden Tag einen Einlauf, damit sie nicht drücken musste. Magdalena mochte die Einläufe nicht. Sie weinte schon, wenn sie Mutter nur mit der Kanne und dem Schlauch kommen sah. Und jetzt weinte sie richtig, aber das durfte sie auch nicht. Es war zu anstrengend für sie.
Wenn sie zu weinen anfing, drehte Mutter durch und scheuchte mich ins Wohnzimmer. Und dann durfte ich nicht mal mehr rauskommen, um meine Schularbeiten zu machen. Am nächsten Tag hatte ich regelmäßig Ärger mit der Lehrerin. Früher hatte sie mich gut leiden mögen, und jetzt meinte sie, ich sei faul und nachlässig geworden. Ich könnte nicht immer meine kranke Schwester als Entschuldigung für meine Schlampigkeit anführen. Ein paar Mal bekam ich sogar Eintragungen ins Klassenbuch.
Grit Adigar riet mir, die Schularbeiten abends zu machen,wenn Mutter mich ins Bett schickte. Da lag ich dann mit meinen Heften und Büchern auf dem Boden, weil wir keinen Tisch im Zimmer hatten. Und dann meckerte die Lehrerin über meine krakelige Schrift.
Natürlich war ich dem Erlöser dankbar, dass er meine Schwester verschont hatte. Aber so hatte ich mir Magdalenas Überleben nicht vorgestellt. Manchmal dachte ich, es wäre besser gewesen, wenn Mutter mich bis an mein Lebensende im Schlafzimmer eingesperrt hätte. Da hätte ich nicht so viel Ärger gehabt.
Alle vier Wochen musste Magdalena zur Nachbehandlung in die Klinik. Mutter fuhr mit. Jedes Mal blieben sie zwei oder drei Tage. Jedes Mal wünschte ich mir, sie kämen nicht mehr heim. Dass die Ärzte sagten, Magdalena müsse für immer in Eppendorf bleiben. Nur dort könne sie überleben. Und Mutter bliebe bei ihr. Sie ließ sie doch nie allein. Und dann bliebe ich mit Vater zurück. Und Vater wäre wieder so, wie er in dem halben Jahr gewesen war. Mehr wollte ich nicht, nur dass er nicht so traurig war.
Es war wie der Albtraum, aus dem sie nicht aufwachen konnte, nur war es ganz anders diesmal. Nichts blieb verborgen. Alles glitt ihr aus den Händen, rutschte aus dem Kopf und breitete sich aus. Sie hörte sich reden, von dem Geburtstag, der Schokolade. Von den Tagträumen. Nur Vater und ich! Sie sah ihren Finger tanzen, sah das aufmerksame und betroffene Gesicht des Chefs wie durch einen Nebel.
Manchmal nickte er.
Und sie konnte nicht aufhören zu reden. Sie durfte auch nicht aufhören. Sie musste ihn überzeugen, dass er Vater in Ruhe ließ. Gereon auch. Gereon hatte es nicht verdient, belästigt zu werden mit einer Sache, die er nicht zu verantworten hatte. Und für Vater wäre es der Untergang gewesen, davon zu erfahren.
Sie erzählte dem Chef von Vater. Nicht zu viel, nur was für ein warmherziger und fürsorglicher Mann er früher gewesen war; vielseitig interessiert, ein wandelndes Geschichtsbuch, Heimatkunde. Sie sprach auch über Mutter, über das Kreuz und die Rosen auf dem Hausaltar, über den Erlöser aus Holz und die Gebete. Nur den Grund erwähnte sie nicht. Magdalena.
Der Körper zitterte wie in einem Krampf, das Hirn zitterte mit, ließ den Kopf wie von einer Maschine gesteuert auf und ab rucken. Aber so viel Kontrolle war noch da. An Magdalena durfte man nichts und niemanden heranlassen, gewiss keine Männer. Jede Aufregung, jede Anstrengung konnte für Magdalena
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