Die Tänzer von Arun
erklärte er. »Er hat noch geschlafen, als ich aufbrach.«
Das Bauernhaus war ähnlich gebaut wie Sefers Kate, nur großräumiger. Dicht hinter der Eingangstür gab es ein Gestell für Stiefel und Schuhe. Der Raum im Erdgeschoß war weit und luftig, der Boden mit Matten belegt, auf denen dicke Kissen verstreut lagen. In der Mitte des Raumes stand ein niedriger Holztisch. An den Fenstern hingen Vorhänge aus weichem Leder.
»Du mußt die abu kennenlernen«, sagte Ardith. Er führte Kerris in den hinteren Teil des Hauses. Dort gab es einen aus Ziegeln gemauerten Herd mit einem schmiedeeisernen Topfring in der Mitte, eine Leiste mit Zapfen für die Töpfe und einen gekachelten Backofen. Ein Stuhl, über dem eine gestreifte Decke hing, stand dicht vor dem Herd.
»Abu«, rief Ardith. Die Decke bewegte sich. Es hockte jemand unter ihr. Aus den bunten Falten schob sich ein Kopf. Eine Greisin blinzelte Kerris an. Ihr Haar war weiß, durch die Strähnen sah man deutlich die rosa Schädelhaut. Die Augen waren milchig und etwas vortretend. Die Decke glitt von den gekrümmten Schultern. Die Lippen verzogen sich. »Abu, hier ist Kerris-no-Alis. Gib ihr deine Hand«, murmelte er Kerris zu. »Sie ist blind und wünscht dich zu fühlen. Sie ist die Mutter von Leas Mutter.« Kerris streckte die Hand aus. Die Greisin schob eine Hand aus der Decke und legte sie in die seine. Die Finger waren knotig und verschrumpelt, die Nägel waren sehr lang und braun. Sie murmelte etwas. »Sie sagt, sie freut sich, daß du gekommen bist«, flüsterte Ardith. Die trockene Hand fühlte sich an wie eine Vogelklaue. Sie zog sie zurück und versteckte sie wieder in den Falten der Decke. Ihr Kopf sank nach vorn. Sanft legte Ardith die Falten der Decke um ihre Schultern zurecht.
»Sie hat das Haus hier gebaut. Sie und der anu«, sagte er. »Sie kann sich noch an die Zeit erinnern, in der dieses ganze Tal hier nur aus Bäumen und Bächen bestand.«
Von oben waren Schritte zu hören. Dann kam eine dunkelhaarige hochgewachsene Frau hinter einem rasch beiseitegeschobenen Vorhang hervor. »Nika«, sagte sie. »Tazi ist im Mädchenzimmer und läßt mich die Tür nicht aufmachen!«
Ardith hielt ihr die Kaninchen hin. »Ich werde mich um sie kümmern«, sagte er. »Lea ...« Doch die Frau trat bereits mit ausgestreckten Armen auf Kerris zu. Ohne zu zögern, legte sie ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich. Sie war ebenso groß wie er. Sie trug staubbraune Hosen und ein sahnefarbenes Hemd, das mit einem geometrischen Muster in vielen verschiedenen Farben bestickt war. Ihr Haar war dicht und hatte graue Strähnen.
Sie ließ ihn frei und trat zurück. »Ai«, sagte sie, »du siehst genauso aus wie Alis.«
Kerris wußte darauf nichts zu antworten. Ardith legte die Kaninchen auf den Kachelherd und ging die gewundene Stiege hinauf.
»Hast du die Abu schon begrüßt?« fragte Lea.
»Ja.«
»Sie ist die Mutter meiner Mutter und nicht mit dir verwandt«, erklärte Lea. »Aber sie kannte die Familie deiner Mutter.« Sie wies zum Tisch hin. »Setz dich doch, bitte!«
»Ich danke dir«, sagte Kerris. Er nahm einen Hocker. Nun, da er hier war, war er sich nicht mehr sicher, warum er gekommen war. Er sagte scheu: »Kanntest du meine Mutter gut?«
Lea antwortete: »Sie war mir so nahe, wie meine ältere Schwester es hätte sein können. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich war acht, als sie ihr erstes Kind bekam. Damals glaubte ich, daß alle Babys gleich aussehen, und ich mußte erst selber vier bekommen, bis ich es besser wußte.«
Die Stufen dröhnten. Ein kleines mürrisch dreinblickendes Mädchen kam heruntergeschossen und wieselte durch den Raum. Eine Tür ging auf, Kerris sah grüne Pflanzen in gemessenen Reihen stehen. Das Mädchen glitt durch die Tür, die mit ohrenbetäubendem Knall hinter ihr ins Schloß fiel. Lea seufzte. Ardith kam die Treppe herab. Er fächelte sich mit dem Hut Luft ins Gesicht.
»Das war Tazia«, sagte Lea. »Sie ist meine Jüngste. Meda, die Älteste, ist achtzehn. Dazwischen kommen Reo und Tulith.« Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Worüber ist sie denn diesmal so zornig, nika?«
»Sie will bei Meda sein.«
»Gestern wollte sie mit Reo den chearas anschauen gehen.« Lea hob beide Hände gegen die Decke. »Sie ist von uns, ich erinnere mich, daß ich sie in mir getragen habe, aber ich hätte nie gedacht, daß ich ein derartig widerborstiges Kind haben könnte.« Dann lachte sie. Es war ein dunkles, klangvolles Lachen. »Vergib
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