Die Tiefe einer Seele
vorwurfsvolle Miene gebraucht, um Erins schlechtes Gewissen zu wecken. Das geschah von ganz alleine. Sie hätte sich in den Hintern treten können. Was war bloß in sie gefahren? Das Mädchen konnte doch nichts dafür, dass sie sich selbst nicht wohl fühlte in ihrer Haut. Spontan trat sie zu ihr und nahm sie in den Arm.
»Verzeih Amy, ich wollte Dich nicht verletzen«, sagte sie voller Aufrichtigkeit. »Es liegt vielleicht an dieser nachtschlafenden Zeit, oder ich bin ganz einfach mit dem falschen Fuß aufgestanden.«
»Kann aber auch sein, dass Dein freches Mundwerk wieder mal vorangeprescht ist, ohne dass Du vorher Dein Hirn eingeschaltet hast«, knurrte James ungehalten. Er konnte allerdings nicht umhin, sich über die innige Umarmung der beiden Frauen zu freuen, die neben seiner Mutter die wichtigsten auf der Erde für ihn waren.
»Schon möglich«, erwiderte Erin leicht demütig und ließ Amelie los. »Vielleicht erklärst Du uns jetzt mal, warum wir uns mitten in der Nacht in diesem Aufzug hier einfinden mussten.«
»Nun«, begann James mit einem höchstmotivierten Strahlen im Gesicht. »Ich habe gestern mit Amys Mutter telefoniert, die mir gesteckt hat, dass die Ärzte in Aurich gemeint hätten, Amy müsste mehr Sport machen, damit es ihr besser gehe. Aus dem Grunde hätte sie ja auch unter anderem die Radtour gemacht, wo sie mir vors Auto geraten ist. Ich habe mich dann im Netz schlaugemacht, und tatsächlich ist es wohl so, dass intensive körperliche Betätigungen die Symptome der Depression nicht nur abschwächen, sondern sie durchaus zu einer möglichen Genesung beitragen können. Meiner Ansicht nach ist aber eine entspannte Fahrt mit dem Fahrrad nicht wirklich das, was gemeint ist. Darum habe ich mich entschlossen, die Damen ein wenig zu trainieren. Denn für Dich, liebes Schwesterchen, wäre es auch mal an der Zeit, den vielen unsinnigen Diäten abzuschwören und endlich mal Deinen Hintern hochzubekommen. Keine Bange, wir fangen ganz harmlos an. Wir laufen heute bis zum Leuchtturm. Es dürften knappe fünf Meilen sein, das schaffen wir im Handumdrehen. Also los, meine Ladys!«
»Fünf Meilen?«, echauffierte Erin sich lautstark und blickte fassungslos ihrem davonlaufenden Bruder hinterher, der fürwahr den Verstand verloren haben musste.
Amy schaute sie ratlos und bedauernd an, setzte sich dann aber ebenfalls in Bewegung. Erin hätte nicht schlecht Lust gehabt, sich tatsächlich wieder in ihr Zimmer zurückzuziehen, aber das gönnte ihr der Kopf und vor allem ihr Stolz nicht. Leise vor sich her schimpfend folgte sie diesen Wahnsinnigen nach draußen.
James Absichten waren die Besten, das stand natürlich wider jeder Debatte. Doch hatte der Gute wohl vergessen, dass er sportlich und durchtrainiert war. Im Gegensatz zu seiner Schwester, die bereits nach wenigen Minuten keuchte und stöhnte wie eine alte Dampflok des 19. Jahrhunderts auf ihrem Weg durch die Weiten des Mittleren Westens. Amelie konnte anfangs zwar noch gut mit James mithalten, aber ihre Beine waren um einiges kürzer als seine, was zur Folge hatte, dass sie wesentlich mehr Schritte brauchte als er und natürlich auch mehr Kraft. Außerdem hatte sie nie wirklich vorgehabt als Langstreckenläuferin an den Olympischen Spielen teilzunehmen, und wie ein Training für eben ein solches Rennen kam ihr dieser frühmorgendliche Lauf vor. So kam es, wie es kommen musste. Erin knickte bei Meile 2 völlig ein. Sie kippte in den Sand und pfiff aus dem letzten Loch, so dass James für einen Moment sogar überlegte, ob er die Rettung alarmieren müsse. Dann beließ er es aber dabei, Russel McPherson anzurufen und zu bitten, seine Schwester, oder das, was von ihr übrig war, einzusammeln. Amy kam die Verschnaufpause ganz gelegen, denn lange würde auch sie nicht mehr durchhalten können. Wäre dieser appetitanregende Ausblick auf James‘ in knappe Boxer-Shorts gehüllte Kehrseite nicht gewesen, hätte sie es Erin wohl schon längst gleichgetan. James war unerbittlich. Trieb sie immer weiter an, so, als wenn er auch noch das letzte Quäntchen Sauerstoff aus ihren Lungen herausquetschen wolle. Der Leuchtturm war bereits zu sehen, was den Sklaventreiber veranlasste, das Tempo erneut anzuziehen. Als wären sie motorbetrieben, brachten seine Füße ihn in beeindruckender Geschwindigkeit unaufhörlich voran, das Ziel ganz nah vor Augen. Doch plötzlich hielt er inne. Irgendetwas war anders! Verdammt, er hatte Amy verloren. Panisch drehte er sich um und
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