Die Tochter der Hexe
die Musikanten, die Kinder in vorderster Reihe. Marusch schien in einer anderen Welt, ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht dem Sternenhimmel zugewandt, um ihren Mund spielte ein Lächeln. Als die Trommeln wieder langsamer schlugen, tanzte sie zu Marthe-Marie und zog sie mit sich.
Zuerst war es Marthe-Marie unangenehm, sich vor den Blicken aller zu bewegen. Seit ihrer Hochzeit hatte sie nicht mehr getanzt, doch dann tat sie es Marusch gleich, stampfte mit den Füßen, reckte die Arme zum Himmel. Spürte, wie sie sich vollkommen dem Rhythmus der Musik überlassen konnte. Inzwischen hatte Marusch auch Diego und Jonas geholt. Diego tanzte mindestens ebenso weich und geschmeidig wie die Prinzipalin, sein Körper verschmolz mit der Musik, während Jonas herumsprang wie ein übermütiges Fohlen. Irgendwann schlang Marusch die Arme umDiegos Hüften, Jonas tat dasselbe mit Marthe-Marie, und sie tanzten paarweise weiter. Marthe-Marie vergaß alles um sich herum, die Schrecken und Ängste der jüngsten Zeit lösten sich auf in Nichts, jetzt war sie hier, im Kreis der Fahrenden, in dieser herrlichen Landschaft der Ortenau im blühenden Frühling.
Keinen hielt es mehr am Rande, selbst die Kinder hüpften wie die Flöhe umher. Marthe-Marie tanzte abwechselnd mit Marusch, mit dem Prinzipal, der wie ein schwerfälliger Bär hin und her schwankte, mit Valentin und Severin, selbst mit dem schwermütigen Maximus, doch immer wieder kehrte sie zu Diego und Jonas zurück. Am Ende, es musste schon gegen Mitternacht sein, legte sie den beiden die Arme um die Schultern, Marusch trat hinzu, und sie tanzten den letzten Tanz zu viert.
Als der letzte Trommelschlag verhallt war, ließen sie sich ins Gras sinken. Der Mond hing als schmale Sichel über der Silhouette der nahen Stadt. Diego lehnte sich an Marthe-Maries Schulter, Agnes lag schlafend in ihrem Schoß, Marusch unterhielt sich mit Jonas, der immer wieder zu ihr herübersah.
«Was für ein wunderbarer Abend.» Diego hob den Kopf und sah in den Himmel. «Und es ist wunderbar, dass du bei uns bist. Aus welchen Gründen auch immer», fügte er leise hinzu.
Marthe-Marie betrachtete sein gerötetes Gesicht mit den klaren, männlichen Zügen, dem dichten Bart und den dunklen Locken, die ihm jetzt wirr in die Stirn hingen.
«Was hast du eigentlich früher gemacht, als du noch nicht bei den Gauklern warst?»
«Ich war Führer bei den Jakobspilgern, Schellenknecht im Siechenhaus, Baumwollstreicher, Bootsknecht, Lehmschleifer auf dem Bau – eigentlich alles, bis auf Hundeschlächter.»
«Wenigstens bist du kein Tierquäler.»
«Nein, nicht deshalb. Es wird zu schlecht bezahlt.»
«Du bist abscheulich.»
«Entschuldige – es war nicht ernst gemeint. Ich habe sogar für noch weniger Geld Abortgruben ausgehoben. Ich würde nie Hunde schlachten.» Er nahm ihre Hand. «Sieh mich nicht so sauertöpfisch an.»
«Was soll ich dir eigentlich glauben?»
«Ich weiß es selber nicht.»
Er lächelte unglücklich, als sie ihm ihre Hand entzog. Sie war verstimmt. Außerdem spürte sie die Müdigkeit mit einem Mal wie Blei in den Knochen.
«Ich gehe schlafen. Gute Nacht, alle zusammen.»
«Warte.» Jonas stand auf. «Ich begleite dich zum Wagen.»
Als sie die Deichsel von Sonntags Wagen erreichten, hörten sie in der Dunkelheit das Schnauben eines Pferdes. Es kam ganz aus der Nähe, dabei standen ihre eigenen Zugtiere am anderen Ende des Lagers. Jonas blieb neben ihr wie angewurzelt stehen, dann rannte er plötzlich los. Sie hörte einen Schlag, ein klatschendes Geräusch, dann Jonas’ fluchende Stimme – «Au Diable!» – und Hufgetrappel.
Mit vor Erregung verzerrter Miene kehrte Jonas zurück. «Verdammt! Da war jemand, der uns beobachtet hat. Aber ich konnte sein Gesicht nicht erkennen.» Seine Stimme bebte. «Ich werde den Prinzipal fragen, ob wir Wachen aufstellen können für den Rest der Nacht.»
Marthe-Marie klopfte das Herz bis zum Hals. Doch es war nicht allein der Schreck über den nächtlichen Eindringling. «Was hast du da eben gerufen?»
Jonas sah sie an wie ein ertapptes Kind und schwieg.
«Du warst das damals in Freiburg, der mich gerettet hat, nicht wahr? Hör auf, mich anzulügen. Ich will jetzt endlich wissen, warum du hier bist.»
«Bitte, Marthe-Marie, bedräng mich nicht. Ich werde es dir irgendwann erklären, aber nicht jetzt.»
Dann drückte er ihr schüchtern einen Kuss auf die Wange. Mit widerstreitenden Gefühlen ließ sie sich den Wagen
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