Die Tore der Welt
«
»Was?«
»Eine solche Spende
wird für gewöhnlich nicht einfach stillschweigend hingenommen. Die Priorei
verkündet sie in der Kirche und segnet den Spender; dann folgt eine Predigt
darüber, dass Leute, die ihr Land der Priorei geben, im Himmel belohnt werden.
Aber ich kann mich nicht erinnern, dass es damals, als Thomas zu uns kam, so
etwas gegeben hat.«
»Umso wichtiger ist
es, die Urkunde herauszusuchen. Ich glaube, dass Thomas ein Geheimnis hat, und
ein Geheimnis ist stets ein Schwachpunkt.«
»Ich werde mich
darum kümmern. Was soll ich den Leuten sagen, die wollen, dass ich mich zur
Wahl stelle?«
Petronilla lächelte
listig. »Ich denke, du solltest ihnen sagen, dass du nicht kandidieren wirst.«
Als Godwyn seine Mutter
verließ, war das Frühstück vorbei.
Nachzüglern war es
aufgrund einer schon lange bestehenden Regel nicht gestattet, später zu essen;
doch der Küchenmeister, Bruder Reynard, fand stets etwas für jemanden, den er
mochte.
Godwyn ging in die
Küche und bekam ein Stück Käse und Brot. Er aß im Stehen, während um ihn herum
die Klosterdiener Geschirr aus dem Refektorium brachten und die Töpfe
schrubbten, in denen der Brei zubereitet worden war.
Während er aß,
sinnierte Godwyn über den Rat seiner Mutter. Je mehr er darüber nachdachte,
desto klüger erschien er ihm. Hatte er erst einmal verkündet, dass er sich
nicht zur Wahl stellen würde, hätten seine Worte die Autorität eines
desinteressierten Beobachters. So würde er die Wahl beeinflussen können, ohne
den Anschein zu erwecken, eigene Ziele zu verfolgen. Godwyn überkam eine Woge
der Dankbarkeit ob des gerissenen Verstandes seiner rastlosen Mutter und der
Treue ihres unbeugsamen Herzens.
Bruder Theodoric
erschien in der Küche. Sein helles Gesicht war vor Empörung gerötet. »Bruder
Simeon hat beim Frühstück darüber gesprochen, dass Carlus Prior werden soll!«,
sagte er. »Alles drehte sich darum, Anthonys weise Tradition fortzusetzen.
Nichts wird sich verändern!«
Das war klug,
dachte Godwyn. Simeon hat meine Abwesenheit genutzt, um Dinge zu verkünden,
gegen die ich mich ansonsten verwahrt hätte. Mitfühlend sagte er: »Das hört
sich gar nicht gut an.«
»Ich habe gefragt,
ob es auch anderen Kandidaten gestattet sei, sich beim Frühstück auf ähnliche
Weise an die Brüder zu wenden.«
Godwyn grinste.
»Das wird ihm nicht gefallen haben.« »Simeon hat erklärt, dass andere
Kandidaten nicht nötig seien. ›Wir halten hier keinen Schießwettbewerb
ab‹, hat er gesagt. Seiner Ansicht nach ist die Entscheidung bereits
gefallen: Prior Anthony habe Carlus zu seinem Nachfolger erklärt, als er ihn
zum Subprior ernannt hat.« »Das ist völliger Unsinn.«
»Genau! Die Brüder
sind außer sich.«
Sehr gut, dachte
Godwyn. Carlus hatte seine eigenen Anhänger vor den Kopf gestoßen, indem er
ihnen das Wahlrecht abgesprochen hatte. Er untergrub seine eigene Kandidatur.
Theodoric fuhr
fort: »Ich denke, wir sollten Carlus drängen, auf seine Kandidatur zu
verzichten.«
Beinahe hätte
Godwyn ein »Bist du von Sinnen?« hervorgestoßen. Doch er biss sich auf die
Zunge und versuchte, den Anschein zu erwecken, als dächte er über Theodorics
Worte nach. »Ist das tatsächlich die beste Möglichkeit?«, fragte er, als wäre
er wirklich unsicher.
Theodoric war von
der Frage überrascht. »Was meinst du damit?« »Du hast gesagt, die Brüder seien
wütend auf Carlus und Simeon. Wenn das anhält, werden sie nicht für Carlus
stimmen. Aber wenn Carlus einen Rückzieher macht, wird die alte Garde einen
anderen Kandidaten aufstellen, und beim zweiten Mal treffen sie vielleicht eine
bessere Wahl. Es könnte jemand Beliebtes sein … Bruder Joseph zum Beispiel.«
Theodoric war wie vom Schlag gerührt. »Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Vielleicht sollten wir hoffen, dass Carlus der Kandidat der alten Garde
bleibt. Es ist allgemein bekannt, dass er gegen jede Form von Veränderung ist.
Tatsächlich ist das
sogar der Grund, warum er ein Leben als Mönch gewählt hat: Es gefällt ihm, wenn
jeder Tag gleich ist. Er liebt es, dieselben Wege zu gehen, auf denselben
Stühlen zu sitzen und an immer denselben Orten zu essen, zu beten und zu
schlafen. Vielleicht liegt es an seiner Blindheit, doch ich vermute, dass es
nicht anders wäre, wenn er sehen könnte. Nun gibt es nur wenige Mönche, die
derart festgefahren sind … weshalb Carlus leicht zu
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