Die Tore der Welt
Deshalb haben wir jetzt Milch für Eric, obwohl meine Brüste
ausgetrocknet sind. Und du bist ja wieder da.« Gwenda war entsetzt. »Du verteidigst
ihn!« »Er ist alles, was ich habe. Er ist kein edler Herr. Er ist nicht mal ein
Bauer. Er ist ein landloser Tagelöhner. Aber seit fast fünfundzwanzig Jahren
tut er für seine Familie, was er kann. Er hat gearbeitet, wenn er konnte, und
gestohlen, wenn er musste. Er hat dich und deinen Bruder am Leben erhalten, und
sollte der Wind günstig stehen, wird er das auch für Cath, Joanie und Eric tun.
Welche Fehler er auch haben mag, ohne ihn wären wir noch viel schlechter dran.
Also nenn ihn nicht den Teufel.« Gwenda verschlug es die Sprache. Sie hatte
sich kaum an den Gedanken gewöhnt, dass ihr Vater sie verraten hatte, und nun
musste sie sich der Tatsache stellen, dass ihre Mutter genauso schlimm war.
In ihrem Kopf
drehte sich alles. Das Gefühl glich dem, als die Brücke sich plötzlich unter
ihren Füßen bewegt hatte. Gwenda konnte kaum fassen, wie ihr geschah.
Pa kam mit einem
Krug Bier ins Haus. Er schien die eher gereizte Stimmung nicht zu bemerken,
denn er holte drei Holzbecher von einem Brett über der Feuerstelle und sagte
fröhlich: »Also dann, lasst uns auf die Rückkehr unseres großen Mädchens
trinken!«
Nach einem ganzen
Tag auf der Straße war Gwenda hungrig und hatte Durst. Sie nahm sich einen
Becher und trank einen tiefen Schluck. Aber sie kannte ihren Vater in dieser
Laune. »Was hast du jetzt wieder ausgeheckt?«, fragte sie.
»Nächste Woche ist
der Markt in Shiring«, sagte Pa.
»Und?«
»Wir könnten es
noch einmal machen.« Gwenda konnte kaum glauben, was sie da hörte. »Was noch
einmal machen?« »Ich verkaufe dich; du gehst mit dem Käufer, läufst dann weg
und kommst wieder nach Hause. Du hast ja keinen Schaden davongetragen, oder?«
»Keinen Schaden davongetragen?«
»Und wir haben eine
Kuh, die zwölf Shilling wert ist. Für zwölf Shilling müsste ich sonst ein
halbes Jahr lang arbeiten.« »Und danach? Was dann?«
»Nun, es gibt noch
andere Märkte: Winchester, Gloucester … ich weiß nicht wie viele.« Er
schenkte ihr nach. »Das könnte ein noch besseres Jahr werden als damals vor
zehn Jahren, als du Sir Gerald die Börse gestohlen hast!«
Gwenda trank nicht.
Sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund, als hätte sie etwas Verdorbenes
gegessen. Gwenda fragte sich, ob sie einen Streit mit Pa anfangen sollte. Böse
Worte kamen ihr in den Sinn, wütende Beschuldigungen, derbe Flüche … doch sie
sprach sie nicht aus. Sie war bereits jenseits aller Wut. Was sollte ein Streit
jetzt noch nützen? Sie würde ihrem Vater nie wieder vertrauen können — und weil
Ma sich weigerte, ihm die Treue zu versagen, konnte sie auch ihr nicht mehr
trauen.
»Was soll ich nur
tun?«, sagte sie laut, wollte aber keine Antwort von irgend jemandem im Raum.
Sie hatte mit sich selbst gesprochen. In dieser Familie war sie zu einem
Handelsgut geworden, das man auf Märkten verkaufte. Was sollte sie tun, wenn
sie das nicht hinnehmen wollte?
Sie könnte einfach
fortgehen.
Gwenda erkannte entsetzt,
dass diese Hütte nicht mehr ihr Heim war. Das war ein Schlag, der die
Grundfesten ihres Lebens erschütterte. Sie lebte schon so lange hier, wie sie
denken konnte, dochjetzt fühlte sie sich hier nicht mehr sicher.
Sie musste raus.
Und nicht erst nächste Woche, erkannte Gwenda, nicht einmal morgen früh,
sondern jetzt.
Sie wusste zwar
nicht wohin, aber das spielte keine Rolle. Hier zu bleiben und das Brot zu
essen, das ihr Vater auf den Tisch legte, bedeutete, sich seiner Autorität zu
unterwerfen und hinzunehmen, wie eine Ware von ihm behandelt zu werden. Es tat
ihr schon leid, auch nur den Becher Bier getrunken zu haben.
Gwenda schaute ihre
Mutter an. »Du hast unrecht«, sagte sie.
»Er ist der Teufel.
Und die alten Geschichten stimmen: Wenn man einen Handel mit dem Teufel macht,
zahlt man mehr, als man geglaubt hat.«
Ma wandte den Blick
ab.
Gwenda erhob sich,
den nachgefüllten Becher in der Hand, und goss das Bier auf den Boden. Skip
begann sofort, es aufzulecken.
Wütend sagte ihr
Vater: »Ich habe einen Farthing für den Krug Bier bezahlt!«
»Lebt wohl«, sagte
Gwenda und ging hinaus.
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KAPITEL 18
Am folgenden
Sonntag besuchte Gwenda einen Gerichtstag, auf dem sich das Schicksal des
Mannes entscheiden würde, den sie liebte.
Der Lehnshof trat
nach dem Gottesdienst
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