Die Tore der Welt
zusammen. Hier versammelte sich das Dorf traditionell zum
gemeinsamen Handeln.
Hier wurden
Streitereien über Ackergrenzen besprochen, Vorwürfe wegen Diebstahls oder
Vergewaltigung verhandelt und darüber entschieden, wenn ein Schuldner nicht
mehr in der Lage war, seine Gläubiger auszubezahlen. Häufig ging es jedoch
schlicht um praktische Lösungen für Probleme des Alltags, etwa die Frage, wann
und wo man die acht Ochsen des Gemeindegespanns zum Pflügen einsetzen sollte.
Theoretisch übte
der Herr die absolute Herrschaft über seine Leibeigenen und Pächter aus.
Allerdings zwang das normannische Recht, das Invasoren aus Frankreich vor
dreihundert Jahren nach England gebracht hatten, die Herren dazu, sich bei
ihrer Urteilsfindung an Sitten und Gebräuche zu halten. Um nun herauszufinden,
was für Sitten und Gebräuche das eigentlich waren, mussten sie formell zwölf
Männer mit tadellosem Ruf aus dem Dorf zu rate ziehen: die sogenannten
Geschworenen. So kam es, dass nahezu sämtliche Verfahren auf eine Verhandlung
zwischen Herrn und Dörflern hinausliefen.
An diesem Sonntag
jedoch hatte Wigleigh keinen Herrn: Sir Stephen war bei dem Brückeneinsturz ums
Leben gekommen. Gwenda hatte diese Nachricht ins Dorf gebracht. Auch berichtete
sie, dass Graf Roland, der einen Nachfolger für Stephen ernennen musste, schwer
verletzt worden war. Am Tag vor ihrem Aufbruch aus Kingsbridge hatte der Graf zum
ersten Mal das Bewusstsein wieder erlangt, doch litt er unter einem so starken
Fieber, dass er nicht in der Lage gewesen war, auch nur einen einzigen zusammen
hängenden Satz zu formulieren. Demnach würde es wohl noch eine Weile dauern,
bis Wigleigh einen neuen Herrn bekam.
Diese Umstände
waren an sich nichts Ungewöhnliches. Herren waren häufig fort: im Krieg, im
Parlament, bei Gericht, oder sie warteten schlicht ihrem Grafen oder dem König
auf. Graf Roland hatte stets einen Stellvertreter ernannt, für gewöhnlich einen
seiner Söhne, doch in diesem Fall war ihm das nicht möglich gewesen. In Abwesenheit
eines Herrn musste der Vogt die Ländereien so gut verwalten, wie er konnte.
An sich war es die
Aufgabe des Vogts oder Gemeindevorstehers, die Beschlüsse des Herrn
auszuführen; aber das verlieh ihm natürlich auch eine gewisse Macht über die
Bewohner. Wie groß diese Macht war, hing davon ab, wie der Herr es hielt:
Manche übten eine strenge Kontrolle aus, andere waren eher lasch. Sir Stephen
hatte die Zügel stets locker gelassen, doch Graf Roland war für seine Strenge
berüchtigt.
Nate Reeve hatte
unter Sir Stephen als Vogt gedient und vor ihm unter Sir Henry, und vermutlich
würde er auch unter dem nächsten Herrn der Gemeindevorsteher sein. Nate hatte
einen Buckel und war klein und dünn, aber tatkräftig. Vor allem aber war er
gerissen und gierig und stets darauf bedacht, das Beste aus seiner eingeschränkten
Macht zu machen, indem er bei jeder sich bietenden Gelegenheit
Bestechungsgelder aus den Dörflern presste.
Gwenda mochte Nate
nicht. Doch es war nicht seine Gier, die sie gegen ihn einnahm; diesem Laster
waren alle Vögte verfallen. Nate aber war verunstaltet — nicht nur durch seinen
Buckel, sondern auch durch seinen Groll gegen alles und jeden. Sein Vater war
Vogt beim Grafen von Shiring gewesen, doch Nate hatte dieses einflussreiche Amt
nicht von ihm geerbt. Er gab seinem Buckel die Schuld daran, dass er in so
einem kleinen Dorf wie Wigleigh gelandet war, und nun dehnte er seinen Hass auf
alle jungen, starken und schönen Menschen aus. Wenn Nate nicht gerade sein Amt
ausübte, trank er gern Wein mit Perkin, Annets Vater, der stets die Zeche bezahlte.
Bei der
Angelegenheit, die heute verhandelt werden sollte, ging es um das Land von
Wulfrics Familie.
Es war ein großes
Stück Land. Der durchschnittliche Besitz eines Bauern betrug eine Hufe, was in
etwa dreißig Morgen entsprach. In der Theorie war eine Hufe das Land, das ein
einzelner Mann bestellen konnte — und normalerweise reichte das, um eine
Familie zu ernähren. Die meisten Bauern in Wigleigh jedoch besaßen nur eine
halbe Hufe, um die fünfzehn Morgen also. Deshalb mussten sie nach Möglichkeiten Ausschau halten, ihren
Verdienst aufzubessern: Sie fingen mit Netzen Vögel in den Wäldern, fischten
Fische aus dem kleinen Fluss, der durch Brookfield strömte, fertigten Gürtel
und Sandalen aus Lederresten, webten Stoff aus dem Garn der Kingsbridger Händler
oder wilderten im
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