Die Tore der Welt
langen Stunden auszufüllen, die mit Gebet und Meditation verbracht werden sollten.
Die Bibliothek
erweckte zwar ihre Begeisterung, doch sie konnte nicht den ganzen Tag lesen. So
kam sie Merthin in der Modellkammer besuchen, und er zeigte ihr seine Pläne.
Rasch wurden die Besuche zur täglichen Gewohnheit, und sie sprach mit ihm,
während er arbeitete. Merthin hatte Philippas Intelligenz stets bewundert, und
in der Stille und Behaglichkeit des Skizzenbodens lernte er sie als einen
freundlichen, warmherzigen Menschen kennen, der sich hinter einem kühlen,
aristokratischen Gebaren verbarg. Er entdeckte, dass sie einen lebhaften Sinn
für Humor besaß, und schaffte es, sie zum Lachen zu bringen. Es war ein dunkles
Lachen tief in der Kehle, das in ihm den Wunsch erweckte, sie zu lieben. Eines
Tages hatte sie ihm dann ein Kompliment gemacht. »Ihr seid ein feiner Mann«,
hatte sie gesagt. »Davon gibt es viel zu wenige.« Ihre Aufrichtigkeit rührte
ihn, und er küsste ihr die Hand. Es war eine Geste der Zuneigung, die sie ohne
Weiteres zurückweisen konnte, wenn sie wollte: Sie brauchte nur die Hand
wegzuziehen und einen Schritt zurückzutreten, und er hätte gewusst, dass er ein
bisschen zu weit gegangen war. Doch sie wies ihn nicht zurück, im Gegenteil;
sie hielt seine Hand fest und schaute ihn mit geradezu verliebten Augen an, und
er legte die Arme um sie und küsste ihren Mund.
Sie liebten sich
auf dem Strohsack auf dem Zeichenboden; erst hinterher war Merthin wieder
eingefallen, dass Caris ihn dazu bewogen hatte, den Sack dort hin zu legen,
wobei sie gescherzt hatte, dass er etwas brauchte, wo er sein bestes Werkzeug
lassen könne.
Caris wusste nichts
von ihm und Philippa. Kaum jemand wusste davon, nur Philippas Zofe sowie Arn
und Em. Philippa ging in ihrem eigenen Zimmer im Obergeschoss des Hospitals
kurz nach Sonnenuntergang zu Bett, um die gleiche Zeit, in der die Nonnen sich
ins Dormitorium zurückzogen. Sie schlich sich hinaus, wenn die Schwestern
schliefen, indem sie die Außentreppe benutzte, die es wichtigen Gästen
erlaubte, zu kommen und zu gehen, ohne das Quartier der gewöhnlichen Leute
durchqueren zu müssen. Vor dem Morgengrauen kehrte sie auf die gleiche Weise
zurück, während die Schwestern die Matutin sangen, und erschien zum Frühstück,
als hätte sie die ganze Nacht in ihrem Zimmer verbracht.
Merthin war erstaunt,
dass er, weniger als ein Jahr nachdem Caris ihn endgültig verlassen hatte, eine
andere Frau lieben konnte. Natürlich hatte er Caris nicht vergessen. Im
Gegenteil — er dachte jeden Tag an sie und verspürte das Verlangen, mit ihr zu
reden, ihr von all dem zu erzählen, was er erlebt hatte, oder sie in einer
kniffligen Frage um Rat
zu fragen; oder er ertappte sich dabei, wie er irgendetwas genau so tat, wie
Caris es gewollt hätte — zum Beispiel, wenn er Lolla das aufgeschürfte Knie mit
warmem Wein abwusch.
Und an den meisten
Tagen sah er Caris: Das neue Hospital war beinahe fertig, die Fundamente für
den Turm der Kathedrale wurden gelegt, und Caris behielt beide Bauvorhaben
aufmerksam im Auge. Auch wenn die Priorei ihre Macht über die Kaufleute der
Stadt eingebüßt hatte, interessierte Caris sich für alles, was Merthin und der
Rat unternahmen: Sie richteten Gerichtshöfe ein, planten die Wiederbelebung des
Wollmarkts und ermutigten die Zünfte, Maßeinheiten und andere Standards
festzulegen, wie es einer freien Stadt zustand.
Doch wenn Merthin
an Caris dachte, hinterließ es stets einen unangenehmen Nachgeschmack, der wie
die Bitterkeit in der Kehle war, wenn man saures Bier getrunken hatte. Er war
ihr mit Leib und Seele verfallen gewesen, doch am Ende hatte sie ihn
abgewiesen. Es war, als erinnerte er sich an einen schönen Tag, der im Streit
geendet hatte.
»Ob ich mich wohl
besonders zu Frauen hingezogen fühle, die nicht frei sind?«, fragte er
Philippa. »Nein, wieso?«
»Nun, es ist doch
seltsam, dass ich ausgerechnet bei der Frau meines Bruders lande, nachdem ich
zwölf Jahre lang eine Nonne geliebt und neun Monate im Zölibat gelebt habe.«
»Ich bin nie Ralphs
Frau gewesen«, erwiderte Philippa. »Ich wurde gegen meinen Willen vermählt und
habe sein Bett nur wenige Tage lang geteilt. Er ist froh, wenn er mich niemals
wieder sieht.«
Merthin tätschelte
ihr entschuldigend die Schulter. »Trotzdem müssen wir vorsichtig sein, genau
wie Caris und ich es damals gewesen sind.« Er sprach nicht aus,
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