Die Tore der Welt
Frage entkräften zu können: »Woher wollt Ihr dann wissen, wie Ihr die
Ausbreitung eindämmen könnt?«
»Aus Erfahrung«,
sagte Caris. »Ein Schafhirt begreift zwar nicht das Wunder, wie im Leib einer
Zicke ein Lamm heranwächst, aber er weiß, dass es nie dazu kommt, wenn er den
Widder von der Weide fernhält.«
»Hm.«
Caris missfiel, wie
er »Hm« machte. Er ist klug, dachte sie, aber seine Klugheit wurzelt nicht in
der Welt und kommt auch nicht von dort. Was war es doch für ein Unterschied
zwischen Bruder Sime und Merthin!
Merthins Wissen war breit gefächert, und die Kraft seines Verstandes, komplexe
Zusammenhänge zu erfassen, war einzigartig; dennoch kannte er keinen
intellektuellen Hochmut: Er wusste, dass seine Gebäude zusammenstürzten, wenn
er einen Irrweg einschlug. Edmund Wooler, Caris‘ Vater, war genauso gewesen —
überaus klug, aber pragmatisch und bescheiden.
Austin lächelte.
»Da hat sie dich, Sime«, sagte er, offenkundig amüsiert, dass sein
selbstgefälliger Freund an dieser ungebildeten Frau gescheitert war. »Wir
wissen vielleicht nicht genau, wie Krankheiten sich ausbreiten, aber es kann
sicher nicht schaden, die Kranken von den Gesunden zu trennen.«
Schwester Joan, die
Mesnerin des Nonnenklosters, unterbrach das Gespräch. »Der Vogt von Outhenby
fragt nach Euch, Mutter Caris.«
»Hat er die Kälber
mitgebracht?« Outhenby war verpflichtet, dem Nonnenkloster zu Ostern zwölf
einjährige Kälber zu bringen.
»Ja.«
»Dann bring die
Tiere in den Pferch, und bitte den Vogt hierher.«
Sime und Austin
verabschiedeten sich, und Caris inspizierte den gekachelten Boden des Aborts,
als Harry Ploughman zu ihr kam, der klügste junge Mann im Dorf, der nun das Amt
des Vogts innehatte. Den alten Vogt hatte Caris entlassen, da er sich zu
langsam auf Veränderungen einließ.
Harry Ploughman,
der nach reiner Luft und frischer Erde roch, schüttelte ihr die Hand, was ein wenig
zu vertraulich war, doch Caris mochte ihn und störte sich nicht daran.
Sie sagte: »Es muss
doch lästig sein, eine Herde den ganzen Weg hierher zu treiben, besonders, wenn
das Frühjahrspflügen ansteht.«
»Das stimmt«, sagte er. Wie die meisten
Pflüger war er breitschultrig und hatte starke Arme. Kraft und Geschicklichkeit
waren vonnöten, um das Achtergespann Ochsen der Gemeinde zu führen, wenn es die
schwere Pflugschar durch den feuchten Lehmboden zog.
»Würdest du nicht
lieber mit Münzen zahlen?«, fragte Caris. »Fast jeder Zehnt wird heutzutage in
Geld gezahlt.«
»Bequemer wäre es.«
Bauernschlau kniff er die Augen zusammen. »Aber wie viel?«
»Ein Jährlingskalb
erzielt auf dem Markt normalerweise zehn bis zwölf Shilling, obwohl die Preise
diesmal niedriger liegen.«
»Ja, um die Hälfte. Zwölf Kälber könnt Ihr
für drei Pfund kaufen.« »Oder für sechs Pfund in einem guten Jahr.« Harry
grinste. Er genoss die Unterhandlung. »Da habt Ihr das Problem.« »Aber du würdest
lieber mit Geld zahlen.« »Wenn wir uns über den Betrag einig werden.« »Sagen
wir acht Shilling.« »Aber wenn der Preis für ein Kalb bei nur fünf Shilling
liegt, woher soll das Dorf dann den Rest nehmen?« »Ich sag dir was: In Zukunft
kann Outhenby dem Kloster entweder fünf Pfund zahlen oder zwölf Kälber geben —
die Wahl liegt bei euch.« Harry überlegte und suchte nach einem Haken an der
Sache, fand aber keinen. »Also gut«, sagte er. »Sollen wir den Handel
besiegeln?« »Und wie?«
Zu ihrer
Überraschung küsste er sie.
Mit seinen rauen
Händen hielt er sie an den schlanken Schultern fest, beugte den Kopf vor und
presste seine Lippen auf ihre. Hätte Bruder Sime das getan, wäre Caris
zurückgezuckt. Bei Harry war es etwas vollkommen anderes; die kraftvolle
Männlichkeit, die er ausstrahlte, erregte sie. Jedenfalls ergab sie sich dem
Kuss, was immer der Grund dafür sein mochte. Er drückte sich so fest an sie,
dass sie seine Erektion spürte. Sie begriff, dass er sie am liebsten gleich
hier auf den frisch verlegten Fliesen des Abortbodens genommen hätte, und
dieser Gedanke brachte sie wieder zur Besinnung. Sie brach den Kuss ab und
schob ihn von sich. »Hör auf!«
Caris erkannte,
dass sie ein Problem hatte. Ohne Zweifel hatten die Gerüchte über Merthin und
sie die Runde gemacht: Wahrscheinlich waren sie beide die bekanntesten Personen
in der ganzen Grafschaft. Auch wenn Harry die Wahrheit sicher nicht kannte,
hatten die Gerüchte ihn
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