Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Tore der Welt

Titel: Die Tore der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
ermutigt. So etwas konnte Caris‘ Autorität schaden. Sie
musste es im Keim ersticken. »So etwas darfst du nie wieder tun«, sagte sie so
streng sie konnte.
    »Aber der Kuss
schien Euch zu gefallen.« »Dann war deine Sünde umso größer, denn du hast eine
schwache Frau in Versuchung geführt, ihre heiligen Gelübde zu brechen.« »Aber
ich liebe Euch doch.« Er sprach die Wahrheit, begriff sie, und sie erriet auch
den Grund dafür: Sie war wie ein Wirbelwind durch sein Dorf gefegt, hatte alles
neu geordnet und die Bauern ihrem Willen unterworfen. Sie hatte Harrys
Möglichkeiten erkannt und ihn über die anderen in seinem Dorf erhoben. Kein
Wunder, dass er zu ihr aufsah und sich in sie verliebt hatte. Doch diese
Zuneigung wollte Caris ihm so schnell wie möglich austreiben. »Wenn du das noch
einmal tust, muss ich mir einen anderen Vogt für Outhenby suchen.« »Oh.« Diese
Drohung zügelte ihn wirkungsvoller als der Vorwurf der Sünde.
    »Jetzt geh nach
Hause.«
    »Sehr wohl, Mutter
Caris.«
    »Und such dir eine
andere Frau — möglichst eine, die kein Keuschheitsgelübde abgelegt hat.«
    »Ja, Mutter Caris«,
sagte er, doch sie glaubte ihm nicht.
    Harry ging, doch
Caris blieb, wo sie war. Sie fühlte sich ruhelos und war noch immer erregt.
Hätte sie sicher sein können, eine Zeit lang allein zu sein, hätte sie sich
selbst berührt, um ihre Lust zu befriedigen. Seit neun Monaten war es das erste
Mal, dass körperliches Verlangen sie überkam. Nachdem sie sich von Merthin getrennt
hatte, war sie in eine Art geschlechtslosen Zustand verfallen, in dem sie nicht
an Liebe dachte. Ihre Beziehungen zu den anderen Nonnen waren von Wärme und
Zuneigung durchdrungen: Sie mochte Joan und Oonagh, obwohl beide sie nicht
körperlich liebten, wie Mair es getan hatte. Nun ließen andere Leidenschaften
Caris‘ Herz schneller schlagen: das neue Hospital, der neue Kirchturm und die
Wiedergeburt von Kingsbridge.
    Als Caris an den
Turm dachte, verließ sie das Hospital und ging über den Kathedralenvorplatz zur
Baustelle. Merthin hatte um die Fundamente des alten Turms herum vier Gruben
ausheben lassen, die tiefsten, die je ein Mensch gesehen hatte. Außerdem hatte
er große Kräne gebaut, um die Erde und den Schlamm aus den Gruben zu heben und
auf Fuhrwerke zu kippen. Während der feuchten Herbstmonate waren den ganzen Tag
lang Ochsenkarren zwischen hier und Leper Island hin- und hergerollt und hatten
den Aushub auf den kargen Felsboden der Insel gekippt; an Merthins Anlegestelle
auf der Insel waren derweil Steine für den Bau des neuen Kirchturms und der
Fundamente angelandet worden; die Ochsenkarren hatten sie auf dem Rückweg von
Leper Island zur Kathedrale gekarrt, und nun türmten die Steine sich um die
Gruben herum zu Bergen auf. Kaum waren die Winterfröste vorüber gewesen, hatten
Maurer mit dem Bau der Fundamente begonnen.
    Caris ging zur
Nordseite der Kathedrale und blickte in eine der schwindelerregend tiefen
Gruben hinein. Der Boden war bereits mit rechteckig behauenen Steinen
ausgelegt: In geraden Reihen lagen sie in einem Bett aus Mörtel und bildeten
das Fundament des neuen Turms.
    Im Hospital war am
Ostermontag niemand bei der Arbeit, doch Caris sah Bewegung unten in der Grube:
Jemand ging am Fundament entlang. Im nächsten Moment erkannte sie Merthin. Sie
stieg auf eine der dünnen Strickleitern, die von Maurern benutzt wurden, und
kletterte unsicher hinunter.
    Sie atmete auf, als
sie den Boden erreichte. Merthin half ihr von der letzten Sprosse. »Du siehst
blass aus«, sagte er.
    »Es ist ein langer
Weg hier herunter. Wie kommst du voran?« »Oh, das wird noch sehr lange dauern!«
»Wieso eigentlich? Es ist doch bloß ein Turm. Das Hospital ist ein viel
komplizierteres Bauwerk.« »Ein Turm ist vor allem aus zwei Gründen ganz anders:
Je höher wir kommen, desto weniger Maurer können daran arbeiten. Im Augenblick
lasse ich von zwölf Männern das Fundament legen. Aber je höher der Turm wächst,
desto beengter wird es, und die Männer haben nicht mehr alle Platz. Der zweite
Grund ist, dass Mörtel lange braucht, um abzubinden. Wir müssen ihn einen
Winter lang aushärten lassen, ehe wir ihn mit einem solch riesigen Gewicht
belasten können.« Caris hörte ihm kaum zu. Wenn sie ihn anschaute, musste sie
daran denken, wie sie sich zwischen Matutin und Laudes im Priorspalast geliebt
hatten, während das erste Licht des neuen Tages durch das offene

Weitere Kostenlose Bücher