Die Tore der Welt
Zeit für
die Stundengebete als Verschwendung erschienen; deshalb hatte Mutter Cecilia
ihr Arbeit zugewiesen, damit sie von den meisten Hören befreit wurde. Heutzutage
freute Caris sich darauf, boten die Stundengebete ihr doch Gelegenheit, zu
ruhen und nachzudenken. Dieser Nachmittag jedoch war schrecklich gewesen, und
sie kämpfte gegen die Tränen an, als sie die Psalmen sang.
Zum Abendbrot aßen
die Nonnen Räucheraal. Das zähe Fleisch mit seinem aufdringlichen Geschmack
gehörte nicht zu Caris‘ Lieblingsspeisen. Doch sie hatte sowieso keinen Hunger
und aß nur ein paar Bissen Brot.
Nach dem Essen
kehrte sie in die Apotheke zurück. Zwei Novizinnen arbeiteten dort und
kopierten Caris‘ Buch über die Heilkunde. Kurz nach Weihnachten hatte sie die
Niederschrift beendet. Viele Leute hatten sie um Kopien gebeten: Apotheker,
Priorinnen, Bader, sogar ein paar Ärzte. Das Buch zu kopieren war inzwischen zu
einem Teil der Ausbildung jener Nonnen geworden, die später einmal im Hospital
arbeiten wollten. Die Kopien anzufertigen war nicht allzu schwierig; es war ein
dünnes Buch, und es gab weder komplizierte Zeichnungen, noch wurden teure
Tinten verwendet. Doch die Nachfrage schien nie nachzulassen.
Mit drei Personen
war es beengt im Zimmer. Caris freute sich auf den vielen Platz und das helle
Licht in der Apotheke im neuen Hospital.
Sie wollte allein
sein und schickte die Novizinnen fort. Doch ihre Hoffnung auf Ungestörtheit
erfüllte sich nicht: Kurz darauf kam Lady Philippa herein.
Caris war mit der
zurückhaltenden Gräfin nie so recht warm geworden, hatte jedoch Verständnis für
ihre Notlage und hätte jeder Frau, die vor einem Gemahl wie Ralph die Flucht
ergriff, Asyl gewährt. Philippa war ein angenehmer Gast, stellte kaum Anforderungen
und verbrachte den größten Teil ihrer Zeit auf ihrer Stube. Am Leben der Nonnen
teilzunehmen, das von Gebet und Selbstversagung geprägt war, zeigte sie nur
wenig Neigung — doch wer hätte das besser verstanden als Caris.
Caris bot ihr an,
sich auf einen Schemel am Arbeitstisch zu setzen.
Philippa war trotz
ihrer höfischen Umgangsformen eine Frau, die keine Umschweife machte. »Lasst
Merthin in Ruhe«, sagte sie gerade heraus.
»Wie bitte?«,
fragte Caris verdutzt.
»Ihr sollt Merthin
in Ruhe lassen. Natürlich müsst Ihr mit ihm reden, das ist mir schon klar, aber
Ihr solltet ihn weder küssen noch berühren.«
»Wie könnt Ihr es
wagen …?« Was wusste Philippa — und weshalb kümmerte es sie überhaupt?
»Er ist nicht mehr
Euer Geliebter! Lasst ihn in Ruhe!« Merthin musste Philippa von dem Streit am
Nachmittag erzählt haben.
»Aber wieso sollte
er Euch …?« Noch ehe Caris die Frage ausgesprochen hatte, wusste sie die
Antwort.
Philippa bestätigte
es mit dem nächsten Satz: »Er gehört jetzt nicht mehr Euch, sondern mir.«
»Was sagt Ihr da?«,
stieß Caris hervor. »Wollt Ihr damit sagen, Merthin und Ihr seid ein Paar?«
»Ja.«
»Ich hatte ja keine
Ahnung!« Caris fühlte sich schändlich betrogen, obwohl ihr klar war, dass sie
kein Recht dazu hatte. Wann war das bloß geschehen? »Aber wie? Und wo?«
»Die Einzelheiten
braucht Ihr nicht zu wissen.« »Natürlich nicht.« In Merthins Haus auf Leper
Island, nahm sie an. Wahrscheinlich nachts. »Wie lange …?« »Das ist
unerheblich.«
Caris konnte es
sich ausrechnen. Philippa war noch keinen Monat hier. »Da habt Ihr aber schnell
zugegriffen.«
Die Spitze war
Caris‘ nicht würdig, und Philippa überhörte sie wohlwollend. »Merthin hätte
alles getan, um Euch zu behalten. Doch Ihr habt ihn von Euch gewiesen. Nun
lasst ihn auch gehen. Es ist schwer genug für ihn, eine andere Frau zu lieben,
nachdem er mit Euch zusammen war; aber es ist ihm gelungen. Wagt ja nicht, Euch
einzumischen.«
Caris wollte sie
beschimpfen, wollte ihr wütend entgegnen, dass sie kein Recht habe, ihr Befehle
zu erteilen oder gar moralische Ansprüche zu stellen — doch sie konnte Philippa
nicht widersprechen. Sie hatte Merthin von sich gewiesen, und das für immer.
Doch sie wollte
Philippa ihren Schmerz nicht merken lassen. »Würdet Ihr jetzt bitte gehen«,
sagte sie und versuchte dabei, Philippas herablassende Art nachzuahmen. »Ich
möchte allein sein.«
Philippa blieb
unbeirrt sitzen. »Werdet Ihr tun, was ich verlange?« Caris hatte allen
Kampfgeist eingebüßt. »Ja«, sagte sie resigniert. »Ich danke Euch.« Philippa
erhob sich vom Schemel und
Weitere Kostenlose Bücher