Die Tore der Welt
Patienten.«
Jonas schien seinen
herablassenden Tonfall nicht zu bemerken. »Ich nehme an, Vater Prior, dass Ihr
der Verfasser dieses unbezahlbaren Werkes seid.«
»Mitnichten!«, rief
Philemon.
»Wer hat es dann
geschrieben?«
»Ich«, sagte Caris.
»Eine Frau!«,
wunderte sich Jonas. »Aber woher habt Ihr all dieses Wissen? In den alten Texten
steht kaum etwas davon, nicht einmal in denen der berühmtesten Gelehrten.«
»Die alten Texte
waren mir nie sehr nützlich. Mich hat eine weise Frau aus Kingsbridge in das
Wissen um die Zubereitung von Arzneien eingeführt. Sie hieß Mattie und musste
leider diese Stadt verlassen, weil sie als Hexe angeklagt zu werden drohte.
Auch von Mutter Cecilia, meiner Vorgängerin als Priorin, habe ich viel gelernt.
Doch die Rezepte und Kuren zu sammeln ist nicht schwer. Die Schwierigkeit liegt
darin, unter dem vielen Unsinn die wenigen wirksamen Mittel heraus zu finden.
Ich habe dazu über Jahre hinweg ein Tagebuch über die Wirkungen eines jeden
Mittels geführt, das ich je ausprobiert habe. In mein Buch habe ich dann nur
die Arzneien aufgenommen, deren Wirksamkeit ich mit eigenen Augen mehrmals
beobachten konnte.«
»Welche Ehre, mit
Euch persönlich zu sprechen!« »Nun, Ihr sollt eine Kopie meines Buches
bekommen. Ich fühle mich geschmeichelt, dass jemand dafür eine so lange Reise
unternimmt.« Caris öffnete einen Schrank. »Dieses Exemplar war für unsere Zelle
von St.-John-in-the-Forest bestimmt, aber dort können sie noch ein Weilchen auf
die nächste Kopie warten.« Jonas nahm das Buch entgegen, als wäre es eine
heilige Reliquie. »Ich bin Euch unendlich dankbar!« Er zog eine Tasche aus
weichem Leder hervor und reichte sie Caris. »Und ich möchte die Nonnen von
Kingsbridge bitten, ein bescheidenes Geschenk meiner Familie als Zeichen meiner
Dankbarkeit anzunehmen.« Caris öffnete den Beutel und nahm einen kleinen, in
ein Wolltuch geschlagenen Gegenstand heraus. Als sie ihn auswickelte, hielt sie
ein goldenes, mit Edelsteinen verziertes Kruzifix in der Hand.
Philemons Augen
funkelten vor Gier.
Caris erschrak.
»Das ist ein viel zu kostbares Geschenk!«, rief sie aus. »Ihr solltet nicht …
«
»Das ist
außerordentlich großzügig von Eurer Familie, Jonas«, fiel Philemon ihr ins
Wort.
Jonas machte eine
wegwerfende Geste. »Wir sind wohlhabend, dem Herrn sei Dank.«
Philemon blickte
Caris triumphierend an und sagte: »Eine solche Kostbarkeit für ein Buch voller
Altweiberunsinn und Aberglauben! Gott wird es Euch lohnen.«
Jonas erwiderte:
»Ach, Vater Prior, Ihr steht natürlich über solchen Dingen. Wir beabsichtigen
ja auch nicht, in Eure geistigen Höhen aufzusteigen. Wir versuchen gar nicht
erst, das Wirken der Körpersäfte zu verstehen. Wie ein Kind, das sich
geschnitten hat, am Daumen lutscht, weil das den Schmerz lindert, verschreiben
wir Mittel, nur weil sie helfen. Warum und wie so etwas geschieht — dies zu
erklären überlassen wir Gelehrten wie Euch! Gottes Schöpfung ist zu
geheimnisvoll, als dass unsereins sie begreifen könnte.«
Caris hatte den
Eindruck, dass Jonas‘ Rede vor Ironie troff. Sie sah, wie Schwester Oonagh sich
ein Grinsen verkniff. Doch auch Sime bemerkte den spöttischen Unterton, und
seine Augen blitzten vor Wut.
Nur Philemon ahnte
nichts und schien sich von der Schmeichelei besänftigen zu lassen. Ein
verschlagener Ausdruck legte sich auf sein Gesicht. Caris vermutete, dass er
sich fragte, wie er wohl an dem Verdienst teilhaben könnte, das Buch verfasst
zu haben, damit auch er juwelenbesetzte Kruzifixe geschenkt bekam.
Der Wollmarkt wurde
wie immer am Pfingstsonntag eröffnet. Seit jeher war es ein betriebsamer Tag
für das Hospital gewesen, und dieses Jahr bildete keine Ausnahme. Ältere
Menschen erkrankten, nachdem sie die lange Reise nach Kingsbridge hinter sich gebracht
hatten; Säuglinge und Kleinkinder bekamen von ungewohntem Essen und fremdem
Wasser Durchfall; in den Schänken tranken Männer und Frauen zu viel und
verletzten sich und andere.
Zum ersten Mal
konnte Caris die Kranken in zwei Kategorien unterteilen und sie entsprechend
unterbringen. Die Pestopfer, die an Zahl stark nachließen, und andere, die sich
Krankheiten wie Magenverstimmungen und Blattern zugezogen hatten, kamen in das
neue Gebäude, das vom Bischof früh am Morgen offiziell eingesegnet worden war.
Opfer von Unfällen und Schlägereien wurden im alten Hospital behandelt, wo sie
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