Die Tore der Welt
sicher vor Ansteckung waren. Vergangen die Tage, an denen jemand mit einem
ausgerenkten Daumen in die Priorei kam und dort an Lungenentzündung starb.
Zur Krise kam es am
Pfingstmontag.
Am frühen
Nachmittag war Caris auf dem Markt, machte einen Spaziergang nach dem
Mittagessen und sah sich um. Im Vergleich zu früher, als sich Tausende von
Besuchern auf dem Kathedralenvorplatz und in den größeren Straßen gedrängt
hatten, war es eher ruhig. Dennoch wurde das diesjährige Fest besser besucht,
als man hatte erwarten dürfen, nachdem es im Jahr zuvor abgesagt worden war.
Vermutlich lag es daran, dass der tödliche Griff der Pest sich zu lockern
schien. Wer bisher überlebt hatte, hielt sich wohl für sicher. Einige waren es
auch, andere aber nicht, denn der Schwarze Tod raffte weiterhin Menschen dahin.
Madge Webbers Tuch
war das Gesprächsthema des Marktes. Die neuen Webstühle, die Merthin gebaut
hatte, waren nicht nur schneller, sie erleichterten es überdies, komplizierte
Muster einzuweben. Madge hatte bereits ihren halben Lagerbestand verkauft.
Caris sprach gerade
mit ihr, als der Kampf begann. Madge brachte Caris in Verlegenheit, indem sie
sagte — wie schon so oft —, dass sie ohne Caris noch immer eine mittellose
Weberin wäre. Caris wollte dies gerade abstreiten — wie jedes Mal —, als sie
laute Stimmen hörte.
Sie erkannte auf
Anhieb die herausfordernden Rufe rauflustiger junger Männer. Sie kamen von
einem Bierausschank dreißig Schritt entfernt. Das Gebrüll wurde immer lauter;
dann schrie eine junge Frau auf. Caris eilte los. Sie hoffte, den Kampf beenden
zu können, ehe er sich zu einer wilden Keilerei auswuchs.
Sie kam zu spät.
Die Schlägerei war
schon im Gange. Vier junge Rabauken aus der Stadt prügelten sich mit einer
Gruppe von Bauern, die an ihrer ländlichen Kleidung zu erkennen waren und die
wahrscheinlich alle aus dem gleichen Dorf stammten. Ein hübsches Mädchen — ohne
Zweifel war sie es, die geschrien hatte — versuchte, zwei junge Männer zu
trennen, die gnadenlos aufeinander einschlugen. Einer der Stadtjungen hatte ein
Messer gezogen, und die Bauernjünglinge hielten schwere Holzschaufeln in
Händen. Als Caris eintraf, schlossen sich auf beiden Seiten weitere junge
Männer dem Kampf an.
Caris wandte sich
Madge zu, die ihr gefolgt war. »Schickt jemanden zu Mungo Constable, rasch! Er
ist wahrscheinlich im Keller der Ratshalle!« Madge eilte davon.
Der Kampf wurde
erbitterter. Mehrere junge Burschen aus der Stadt hatten die Messer gezückt.
Ein Bauernjunge lag am Boden und blutete heftig aus einer Wunde am Arm; ein
anderer kämpfte trotz eines klaffenden Schnitts im Gesicht weiter. Noch während
Caris zusah, rannten zwei Städter nach vorn und traten nach dem Bauernjungen.
Nach einem
Augenblick des Zögerns trat Caris vor und packte den nächststehenden Streithahn
am Hemd. »Willie Bakerson, hör sofort auf!«, herrschte sie ihn mit ihrer
gebieterischsten Stimme an.
Beinahe hätte es
geholfen.
Willie trat
erschrocken von seinem Gegner zurück und blickte Caris schuldbewusst an. Sie
öffnete den Mund, um ihre Standpauke fortzusetzen, als ein wuchtiger Hieb mit
einer Schaufel, der für Willie bestimmt gewesen war, sie am Kopf traf.
Der Schmerz war
grauenhaft. Caris wurde schwarz vor Augen, und sie verlor das Gleichgewicht.
Sie stürzte, lag benommen auf dem Boden und kämpfte gegen die drohende Ohnmacht
an, während die Welt sich um sie drehte. Dann griff ihr jemand unter die Arme und
zog sie fort.
»Seid Ihr verletzt,
Mutter Caris?« Die Stimme klang vertraut, doch Caris wusste nicht, wem sie
gehörte.
Endlich wurde ihr
Kopf wieder klar, und mit der Hilfe ihres Retters, in dem sie nun den kräftigen
Getreidehändler Megg Robbins erkannte, kam sie auf die Beine. »Wir dürfen nicht
zulassen«, sagte sie benommen und mit schwerer Zunge, »dass diese Jungen sich gegenseitig
umbringen.«
»Da kommen schon
die Stadtknechte. Überlassen wir es ihnen.«
Tatsächlich eilten
soeben Mungo und sechs oder sieben Hilfsbüttel herbei, Knüppel in den Händen.
Sie mischten sich unter die Kämpfenden und schlugen zu, ohne einen Unterschied
zu machen. Dabei richteten sie ebenso viel Schaden an wie die Streithähne, doch
ihr Auftauchen zeigte Wirkung: Die jungen Männer rannten davon, und das
Schlachtfeld leerte sich. Nach erstaunlich kurzer Zeit war der Kampf vorüber.
»Megg«, sagte
Caris, »bitte lauft ins Hospital und
Weitere Kostenlose Bücher