Die Tore der Welt
»Es muss zusammenhängen.«
Davor hatte sich
Gwenda gefürchtet.
Sie stand auf und
sah aus der Tür. Ein stämmiges schwarzes Pony folgte dem Weg zwischen den
Häusern. Augenblicklich erkannte sie den Reiter, und ihr sank das Herz: Es war
Jonno Reeve, der Sohn des Vogts von Wigleigh.
Wie hatte er sie
gefunden?
Sie versuchte sich
rasch in die Kate zurückzuziehen, doch er hatte sie gesehen. »Gwenda!«, rief er
und zügelte sein Pferd. »Du Teufel«, sagte sie.
»Ich wüsste gern,
was Ihr hier sucht?«, erwiderte er spöttisch.
»Wie kommst du
hierher? Niemand ist mir gefolgt!« »Mein Vater hat mich nach Kingsbridge
geschickt, um zu sehen, was Ihr dort treibt, aber unterwegs hielt ich bei der
Schänke am Kreuzweg, und die Leute erinnerten sich, dass Ihr die Straße nach
Outhenby eingeschlagen hattet.« Sie fragte sich, ob sie diesen klugen jungen
Mann überlisten konnte. »Und warum sollte ich meine alten Freunde hier nicht
besuchen?« »Dazu hättet Ihr keinen Grund«, entgegnete er. »Wo ist Euer
flüchtiger Sohn?« »Hier nicht, aber ich hatte es gehofft.« Einen Augenblick
lang wirkte er unsicher, als hielte er es für möglich, dass sie die Wahrheit
sprach. Dann sagte er: »Vielleicht versteckt er sich. Ich schaue mich um.« Er
trieb das Pony an.
Gwenda sah ihm
nach. Sie hatte ihn nicht getäuscht, aber zumindest Zweifel in ihm gesät. Wenn
sie Sam vor ihm erreichte, konnte sie ihren Sohn vielleicht verstecken.
Rasch trat sie in
die Kate, sprach hastig zu Liza und Rob und verließ das Haus durch die
Hintertür. Zielstrebig ging sie zum Feld, wobei sie sich immer dicht an der
Hecke hielt. Als sie zum Dorf zurückblickte, sah sie einen Berittenen, der sich
schräg zu ihrer Richtung bewegte. Das Licht schwand, und Gwenda bezweifelte,
dass ihre kleine Gestalt sich von dem dunklen Hintergrund der Hecke abhob.
Sie begegnete Sam
und den anderen, als sie ins Dorf zurückkamen, die Spaten über den Schultern,
die Stiefel dick mit Schlamm verkrustet. Aus der Entfernung hätte man Sam auf
den ersten Blick für Ralph halten können: Er hatte die gleiche Figur und den
gleichen selbstsicheren Schritt, die gleiche Haltung des stattlichen Kopfes auf
dem kräftigen Hals. Doch wenn er redete, erkannte sie auch Wulfric in ihm: Die
Art, wie er den Kopf wandte, das leise Lächeln und die wegwerfende Handbewegung
entsprachen genau dem Gebaren seines Pflegevaters.
Die Männer sahen
sie. Durch ihr Kommen am frühen Abend waren sie aufgestachelt, und nun rief der
Einäugige: »Sei gegrüßt, Mutter!«, und alle lachten.
Sie nahm Sam zur Seite
und sagte: »Jonno Reeve ist hier.« »Verdammt!«
»Es tut mir leid.«
»Du hast gesagt,
niemand ist dir gefolgt!« »Ich habe ihn nicht gesehen, aber er ist mir auf die
Spur gekommen.« »Verdammt. Was soll ich jetzt tun? Ich gehe nicht wieder nach
Wigleigh zurück!« »Er sucht nach dir, aber er hat das Dorf Richtung Osten
verlassen.« Sie musterte die dunkelnde Landschaft, aber sie konnte kaum etwas
erkennen. »Wenn wir uns sputen, nach Oldchurch zu kommen, könnten wir dich
verstecken — zum Beispiel in der Kirche.« »Also gut.«
Sie beschleunigten
ihren Schritt. Gwenda sagte über die Schulter: »Wenn Ihr einem Vogt namens
Jonno begegnen solltet … Sam aus Wigleigh kennt Ihr nicht.«
»Nie von ihm
gehört, Mutter«, sagte einer, und die anderen gehorchten. Wenn es galt, den
Vogt zu überlisten, halfen Hörige einander in der Regel gern.
Gwenda und Sam
erreichten den Weiler, ohne Jonno zu sehen. Sie eilten zur Kirche. Gwenda
vermutete, dass sie wahrscheinlich hinein gehen konnten: Auf dem Land waren die
Gotteshäuser meist leer und kahl, und man verschloss sie nicht. Wenn dies sich
als Ausnahme erweisen sollte, wusste sie nicht, was sie tun sollten.
Sie fädelten sich
zwischen den Häusern hindurch und kamen in Sichtweite der Kirche. Als sie Lizas
Vordertür passierten, entdeckte Gwenda ein schwarzes Pony und sog scharf die
Luft ein. Jonno musste im Schutz der Dunkelheit umgekehrt sein. Er hatte darauf
gesetzt, dass Gwenda ihren Sohn finden und ins Dorf bringen würde, und
gewonnen. Er besaß die niederträchtige Schläue seines Vaters Nate.
Sie nahm Sam beim
Arm, um mit ihm über die Straße in die Kirche zu eilen — als Jonno aus Lizas
Haus trat.
»Sam«, sagte er.
»Ich dachte mir, dass du hier bist.« Gwenda und Sam hielten an und wandten sich
um. Sam stützte sich auf seinen Holzspaten. »Und was willst du
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