Die Tore der Welt
fragte er. »Hatte Jonno
Reeve das Recht, ihn dingfest zu machen? Und hat Sam mit seinem Spaten Jonno
getötet? Wenn die Antwort auf alle drei Fragen ja lautet, dann ist Sam des
Mordes schuldig.«
Ralph war
überrascht und erleichtert zugleich. Kein Unsinn von wegen, ob Sam etwa
herausgefordert wurde. Der Richter war doch ein verlässlicher Mann.
»Wie lautet Euer
Urteil?«, fragte Sir Lewis.
Ralph sah Wulfric
an. Das Entsetzen hielt den Mann gepackt. So soll es allen widerfahren, die mir
trotzen, dachte Ralph, und er wünschte, er könnte es laut aussprechen.
Wulfric bemerkte
seinen Blick. Ralph hielt seinem Starren stand und versuchte, Wulfrics Gedanken
zu lesen. Was empfand der Kerl? Ralph sah ihm an, dass es Furcht war. Noch nie
im Leben hatte Wulfric vor Ralph Angst gezeigt, doch jetzt brach sein
Widerstand zusammen. Sein Sohn würde sterben, und das traf ihn ins Herz. Eine
tiefe Genugtuung erfüllte Ralph, während er Wulfric in die Augen blickte.
Endlich habe ich dich zermalmt, dachte er, vierundzwanzig Jahre hat es
gedauert. Endlich hast du Angst vor mir.
Die Geschworenen
berieten. Der Sprecher schien mit den anderen zu streiten. Ralph sah ihnen
ungeduldig zu. Nach dem, was der Richter gesagt hatte, konnte doch kein Zweifel
mehr bestehen? Doch bei Geschworenen wusste man nie. Es kann doch jetzt nicht
mehr schiefgehen, dachte Ralph. Oder doch?
Die Leute schienen
sich geeinigt zu haben, doch er vermochte nicht zu erraten, wer die Oberhand
gewonnen hatte. Der Sprecher erhob sich.
»Wir befinden Sam
Wigleigh des Mordes für schuldig«, sagte er.
Ralph hielt den
Blick auf seinen alten Feind fixiert. Wulfric sah drein, als hätte ihn ein Messerstich
getroffen. Sein Gesicht wurde blass, und wie in tiefem Schmerz schloss er die
Augen. Ralph versuchte, nicht triumphierend zu lächeln.
Sir Lewis wandte
sich Ralph zu, und der Graf löste seinen Blick von Wulfric. »Welche Strafe
haltet Ihr für angemessen?«, fragte der Richter.
»Soweit es mich
betrifft, gibt es nur eine Möglichkeit.« Sir Lewis nickte. »Die Geschworenen
haben keine Milde empfohlen.«
»Sie wollen nicht,
dass ein Landflüchtiger ungestraft seinen Vogt erschlagen kann.«
»Dann steht die
Strafe fest?« »Freilich.« Der Richter wandte sich wieder an den Saal. Ralph
fixierte seinen Blick wieder auf Wulfric. Alles andere sah Sir Lewis an. Der
Richter sagte: »Sam Wigleigh, du hast den Sohn deines Vogtes ermordet und wirst
zum Tode verurteilt. Morgen früh in der Dämmerung sollst du auf dem Marktplatz
von Shiring gehängt werden, und möge Gott deiner Seele gnädig sein.« Wulfric
taumelte. Der jüngere Sohn packte den Vater beim Arm und stützte ihn, sonst
wäre er zusammengebrochen. Soll er fallen, wollte Ralph sagen; er ist am Ende.
Ralph sah Gwenda
an. Sie hielt Sams Hand, aber ihr Blick gehörte Ralph. Ihn erstaunte ihre
Miene. Er hatte Kummer erwartet, Tränen, Schreie, Hysterie. Doch sie sah ihn
nur ruhig an. Hass stand in ihren Augen, und noch etwas anderes: Trotz. Im
Gegensatz zu ihrem Gemahl wirkte sie nicht niedergeschmettert. Sie glaubte
nicht, dass die Angelegenheit schon vorbei war.
Sie sieht aus,
dachte Ralph bestürzt, als hätte sie ihre Mittel noch nicht ausgeschöpft.
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KAPITEL 84
Caris brach in Tränen
aus, als Sam abgeführt wurde, doch Merthin brachte es nicht über sich, Kummer
und Niedergeschlagenheit zu heucheln. Für Gwenda war es eine Tragödie, und
Wulfric tat ihm aufrichtig leid. Dennoch war es für den Rest der Welt nichts
Schlechtes, wenn Sam gehenkt wurde. Jonno Reeve hatte das Gesetz ausgeführt. Es
mochte ein schlechtes Gesetz sein, ungerecht und unterdrückerisch — doch das
verlieh Sam kein Recht, Jonno zu töten. Auch Nathan Reeve war eines Sohnes
beraubt worden. Dass niemand Nate leiden konnte, machte keinen Unterschied.
Ein Dieb wurde vor
den Richter geführt, und Merthin und Caris verließen den Saal und gingen in den
Schankraum des Wirtshauses. Merthin holte ihnen Wein und schenkte Caris einen
Becher ein. Gleich darauf kam Gwenda an ihren Tisch. »Es ist Mittag«, sagte
sie. »Uns bleiben achtzehn Stunden, um Sam zu retten.«
Merthin blickte sie
überrascht an. »Wie stellst du dir das vor?«, fragte er.
»Wir müssen Ralph
dazu bewegen, dass er den König um eine Begnadigung ersucht.«
Das erschien Merthin
aussichtslos. »Wie willst du Ralph dazu bewegen?« »Ich kann das nicht, so viel
steht fest«, sagte Gwenda. »Aber du
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