Die toten Mädchen von Villette
Jahren am Justizpalast war er müde und arbeitete oft im Schrittempo. Außerdem tat er sich schwer mit Frauen, die nicht seine Untergebenen waren. Er und Martine arbeiteten an einer langwierigen Untersuchung über eine Reihe von mysteriösen Raubüberfällen in Selbstbedienungsläden, und sie begannen zumindest, sich aneinander zu gewöhnen. Sie waren sogar kürzlich dazu übergegangen, einander zu duzen.
– Guten Morgen, guten Morgen, Martine, sagte Willy Bourgeois gemütlich, ihr seid hier mächtig zugange, sehe ich. Ich mußte ja die Frau im Hotelzimmer in La Pannelassen, weil die Pflicht rief, und dann habt ihr den Fall schon gelöst, wenn ich komme. Ja, ja, ich will nicht klagen. Nur schade, daß die süße, kleine Julie diesmal nicht mitspielen darf. Aber das konnte man wohl erwarten, ich habe die Herren Wastia sehr oft eingebuchtet. Schlechtes Blut macht sich immer bemerkbar.
Martine knirschte mit den Zähnen, brachte aber ein kühles »Guten Morgen, Willy« über die Lippen. Er blätterte weiter die Akte durch, munter pfeifend.
Aber plötzlich unterbrach er seine melodischen Ausschweifungen mitten in einem Takt.
– Verdammt noch mal! rief er so laut aus, daß sich die Blicke aller im Raum zu ihm wandten. Er stand auf und wedelte aufgeregt mit einer der Fotografien vom Tatort.
– Kommt und guckt euch das an, sagte er, wenn mich die Erinnerung nicht täuscht, sieht dieses Foto genauso aus wie die Bilder vom Christelle-Mord! Sie sind schauerlich ähnlich, dieselbe Pose, es könnte dasselbe Bild sein.
Er hatte das Foto auf den Schreibtisch gelegt. Martine ging hin und betrachtete es. Es war eines der Bilder von der toten Sabrina, an den Baumstamm gelehnt, die Hände hinter sich und die langen Haare über den Schultern ausgebreitet. Sie sah beinah lebendig aus. Erneut war Martine frappiert von dem raffiniert, schaufensterpuppenhaft Arrangierten der Pose.
– Der Christelle-Morde? sagte sie.
– Ja, das war natürlich vor deiner Zeit, sagte Willy Bourgeois. Ein Mädchenmord, den wir nie lösen konnten. Wann kann das gewesen sein, vor fünfzehn Jahren? Nein, etwas weniger, es war das Jahr, in dem der Junge Abitur gemacht hat, das war doch …
– 1982? sagte eine Stimme im Raum.
– 1982, stimmte Willy Bourgeois zu, genau, in dem Jahr war es.
Sophie ließ Philippe an der Place Rogier in Brüssel aussteigen. Von da aus konnte er in ein paar Minuten zu seiner Arbeit gehen.
– Danke fürs Mitnehmen, sagte er und küßte Sophie auf die Wange.
– No problem, sagte sie, bist du ganz sicher, daß du nicht mitkommen und deine Exfrau sehen willst?
Sie lachte über sein übertriebenes Schaudern und winkte ihm zu, als sie losfuhr, den Boulevard du Jardin Botanique entlang. Philippe schüttelte den Kopf. Er mochte Sophie, aber sie studierte viel zu gern die Reaktionen anderer Menschen. Es gefiel ihm nicht, studiert zu werden.
Giovanni, der letzte Freund des ermordeten Eric Janssens, wartete schon auf ihn, ein Glas Wein vor sich, vermutlich das teuerste auf der Weinkarte. Er arbeitete als Friseur, sehr tüchtig, hieß es, aber er hatte teure Gewohnheiten, die er kaum von seinem Friseurlohn finanzieren konnte.
Als er vor vier Jahren zum ersten Mal in Brüssel aufgetaucht war, hatte er allen, die es hören wollten, erzählt, er sei der letzte männliche Nachkomme einer verarmten gräflichen Familie aus Florenz, eine ergreifende Geschichte, die durch seine schlagende Ähnlichkeit mit Botticellis Porträt eines jungen Mannes mit bronzefarbenen Locken aus dem 15. Jahrhundert eine gewisse Glaubwürdigkeit erhielt. Aber wer Giovannis Ausweis gesehen hatte, konnte berichten, daß er in Wirklichkeit Johann Dieter Weiss hieß. Er war fünfundzwanzig, sagte aber meistens, er sei zweiundzwanzig.
Es war drei, und es war leer in der Bar, abgesehen vonGiovanni, einem Paar mittleren Alters, das an einem Tisch saß und Kaffee trank, und zwei amerikanischen Teenagern, die kichernd jede einen giftgrünen Drink mit Früchten und Papiersonnenschirmen probierten.
Philippes Schicht begann eigentlich jetzt, aber seine Arbeitskollegen Stéphanie und Albert hatten keine Einwände, als er fragte, ob er zuerst eine halbe Stunde Pause machen könne. Er ging zu Giovanni, der einen Tisch außer Hörweite der Bar und der übrigen Kunden gewählt hatte, und ließ sich ihm gegenüber nieder.
– Hallo, Giovanni, sagte er, wie gut, daß du kommen konntest. Das war ja entsetzlich, diese Geschichte mit Eric, es muß schrecklich für dich
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