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Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins

Titel: Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milan Kundera
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ihn verhörte.
    Um seine Gedanken zu verscheuchen, sagte er: »Also, mit welchem Fenster soll ich anfangen?«
    Die beiden Männer lachten herzlich.
    Es war klar, hier ging es nicht ums Fensterputzen. Er war nicht bestellt, um Fenster zu putzen, er war in eine Falle gelockt worden. Er hatte noch nie mit seinem Sohn gesprochen. Es war das erste Mal, daß er ihm die Hand drückte. Er kannte ihn nur vom Sehen und wollte ihn auch gar nicht anders kennen. Er wünschte sich, nichts von ihm zu wissen und wollte, daß sein Sohn sich dasselbe wünschte.
    »Ein schönes Plakat, nicht wahr?« sagte der Redakteur und wies auf eine große, eingerahmte Zeichnung, die Tomas gegenüber an der Wand hing.
    Jetzt erst sah Tomas sich die Wohnung an. An den Wänden hingen interessante Bilder, viele Fotografien und Plakate.
    Die Zeichnung, auf die der Redakteur zeigte, war 1969 in einer der letzten Nummern seiner Wochenzeitung veröffentlicht worden, bevor die Russen deren Erscheinen verboten.
    Es war eine Imitation des berühmten Plakates aus dem russischen Bürgerkrieg von 1918, das für den Eintritt in die Rote Armee warb: ein Soldat mit rotem Stern auf der Mütze und ungewöhnlich strengem Blick schaut dem Betrachter in die Augen und droht mit dem Zeigefinger der ausgestreckten Hand. Der ursprüngliche russische Text lautete: »Bürger, hast du dich schon bei der Roten Armee registrieren lassen?«
    Dieser Text war durch einen tschechischen ersetzt: »Bürger, hast auch du die Zweitausend Worte unterschrieben?«
    Ein ausgezeichneter Witz! Die Zweitausend Worte waren das erste berühmte Manifest des Prager Frühlings, in dem zu einer radikalen Demokratisierung des kommunistischen Regimes aufgerufen wurde. Es war von zahlreichen Intellektuellen unterzeichnet worden, und die einfachen Leute kamen dann, um es ebenfalls zu unterschreiben, bis so viele Unterschriften zusammengekommen waren, daß niemand mehr imstande war, sie zu zählen. Nachdem die Rote Armee einmarschiert war und als die politischen Säuberungen begannen, lautete eine der Fragen, die den Bürgern am Arbeitsplatz vorgelegt wurde: »Hast auch du die Zweitausend Worte unterschrieben?« Wer es zugab, wurde kommentarlos entlassen.
    »Eine schöne Zeichnung. Ich erinnere mich daran«, sagte Tomas.
    Der Redakteur lächelte: »Hoffen wir, dieser Rotarmist hört nicht mit, was wir hier reden.«
    Dann fügte er in ernstem Tonfall hinzu: »Damit Ihnen alles klar ist, Herr Doktor. Diese Wohnung gehört nicht mir. Es ist die Wohnung eines Freundes. Es ist also nicht sicher, ob die Polizei in diesem Moment mithört. Es ist aber möglich.
    Hätte ich Sie zu mir nach Hause eingeladen, so wäre es sicher gewesen.«
    Dann fuhr er in leichterem Tonfall fort: »Aber ich gehe davon aus, daß wir vor niemandem etwas zu verstecken haben. Übrigens, stellen Sie sich den Vorteil vor, den die
    Historiker der Zukunft haben werden! Sie werden in den Polizeiarchiven das Leben aller tschechischen Intellektuellen auf Tonband aufgezeichnet finden! Wissen Sie, was für Mühe es einen Literaturwissenschaftler kostet, sich das sexuelle Leben eines Voltaire, Balzac oder Tolstoj konkret vorzustellen? Bei den tschechischen Schriftstellern werden keine Zweifel auftreten. Alles ist registriert. Jeder Seufzer.«
    Dann wandte er sich an die imaginären Mikrophone in den Wänden und sagte noch lauter: »Meine Herren, wie immer bei ähnlichen Anlässen möchte ich Sie zu Ihrer Arbeit ermutigen und Ihnen in meinem Namen und im Namen der künftigen Historiker danken!«
    Alle drei lachten eine Weile, und dann erzählte der Redakteur davon, wie seine Zeitung verboten wurde, was der Zeichner nun machte, der sich diese Karikatur ausgedacht hatte, und womit all die anderen tschechischen Maler, Philosophen und Schriftsteller sich beschäftigten. Nach der russischen Invasion hatten sie alle ihre Arbeit verloren und waren Fensterputzer, Parkwächter, Nachtportiers, Heizer öffentlicher Gebäude geworden, im besten Falle Taxifahrer, aber dazu waren gute Beziehungen notwendig.
    Es war nicht uninteressant, was der Redakteur sagte, aber Tomas war unfähig, sich zu konzentrieren. Er dachte an seinen Sohn. Er erinnerte sich, daß er ihn schon seit einigen Monaten häufiger auf der Straße traf. Wohl kaum zufällig. Er war überrascht, ihn nun in Gesellschaft des verfolgten Redakteurs zu sehen. Tomas' erste Frau war orthodoxe Kommunistin und Tomas hatte automatisch angenommen, sein Sohn stünde unter ihrem Einfluß. Er wußte nichts

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