Die unsicherste aller Tageszeiten
übler Nachrede kalt mit der frohen Botschaft erwischte. Denn ob sie es nun wussten oder nicht, änderte ja nichts an der Tatsache. Dachte ich jedenfalls.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich seit zwei Jahren mit Sicherheit, schwul zu sein, hatte es seit frühester Kindheit schon geahnt, weil ich immer schon nur von Traumprinzen, niemals aber von Traumprinzessinnen geträumt hatte. Ich trug meine Andersartigkeit als einen Wissenskeim in mir, und als ich in die Pubertät kam, da brach seine Hülle endgültig auf, und er schlug Wurzeln in meinem Bewusstsein. Er bescherte mir einen wunderbaren inneren Frühling. Ich war so glücklich, endlich benennen zu können, wonach ich mich sehnte, denn das hieß, endlich auch gezielt danach suchen und darum werben zu können. Endlich lernte ich, die entsprechenden Signale zu senden und zu empfangen. Natürlich war da auch immer die Angst vor den anderen, die anders waren als ich und leider in der Überzahl, die widerliche Witze rissen und mit dem sexuellen Erwachen ihre kindliche Grausamkeit in die Grausamkeit Erwachsener umtauschten. Sie wurden hinterhältig und intrigant und zwangen mich, mich zumindest in der Schule ebenso zu verhalten, mich anzupassen.
Die zweite Lektion meiner Pubertät, auch sie lernte ich schnell und sie machte mich tatsächlich allen anderen so gleich, dass ich unter ihnen nicht weiter auffiel. Bis ich mich erfahren und selbstsicher genug fühlte, auf ihre Meinung nichts mehr zu geben und irgendwann durchblicken ließ, schwul zu sein. Das war in der Oberstufe, im Leistungskurs Geschichte – ein Leistungskurs Kunst war wegen zu geringer Teilnehmerzahl nicht zustande gekommen –, als ich ein Referat über den Umgang der Bundesrepublik Deutschland mit homosexuellen Männern von den Anfängen bis zur Gegenwart hielt. Es geriet mehr zu einem Pamphlet, an dessen Ende ich den Staat regelrecht verdammte als »abartige Fortsetzung der Nazi-Diktatur, der von den demokratischen Grundprinzipien, die er seinen Bürgern angeblich verspricht, nichts verstanden hat, allen voran von dem Grundprinzip der freien persönlichen Entfaltung, die ganz entschieden auch die sexuelle beinhaltet.« Ich bekam eine Zwei für mein Referat, und danach war ich für ein paar Tage Tuschelthema Nummer eins, bis alles wieder im Sande der schulischen Gleichgültigkeit versickerte. Niemand sprach mich mehr darauf an, niemand hänselte mich deswegen, keiner kam deshalb auf die Idee, mich nicht mehr zu Klassenfeten einzuladen. Erst auf dem Abiball, genauer gesagt als sich dieser schon sehr seinem betrunkenen Ende zuneigte, sprachen mich ein paar nun ehemalige Mitschülerinnen an und wollten wissen, ob ich denn überhaupt schon mal mit einem Mann geschlafen hätte.
Ich plusterte mich zur vollen Größe auf und nickte wegwerfend, als wäre das keine große Sache. »Ihr etwa nicht?«
Sie nuschelten verschämte Bejahungen, die nicht in jedem Fall überzeugend klangen, und fragten dann, wie alt ich beim ersten Mal gewesen wäre.
»Vierzehn.«
Da waren sie baff und hätten gerne mehr erfahren, aber ich erzählte ihnen nichts weiter. Meine Eltern wären vermutlich ebenfalls baff gewesen, hätte ich ihnen damals, mit fünfzehn, schon erzählt, keine Jungfrau mehr zu sein und vielleicht wären sie gar nicht erst auf dumme Ideen gekommen, weil sie gedacht hätten, dann wäre ja sowieso schon alles verloren. Aber auch ihnen erzählte ich nicht, dass die ganze Sache mit dem Schwulsein nicht mehr einfach nur eine theoretische Angelegenheit war, sondern dass ich jemanden kennengelernt und mich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, ja, dass ich gerade von einem Stelldichein mit ihm zurückkam und dass sie ihn sogar kannten und eigentlich auch eine recht hohe Meinung von ihm hatten. Ich erzählte ihnen nichts von dem überwältigenden Glücksgefühl, das mich durchströmte und durch das ich mich unangreifbar wähnte.
Meine Eltern saßen in der Küche in trauter stiller Eintracht beieinander, meine Mutter palte Erbsen aus dem eigenen Garten, mein Vater, gerade von der Arbeit heimgekehrt, las bei einem Feierabendbier die Zeitung. Meine Brüder trieben sich irgendwo im Dorf herum, meine Schwester war mit dem Rad zum Handballtraining gefahren. Kaum angekommen, lief ich zu ihnen, so sehr brannte mir die Neuigkeit unter den Nägeln, so gern wollte ich sie selbst mit meinen Eltern teilen.
Doch noch bevor ich den Mund aufmachen konnte, um meine Eltern auch nur zu begrüßen, fuhr mir mein Vater schon in die
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