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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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wollte nur zu gern glauben, jedes Problem damit aus der Welt geschafft zu haben.
    Die Türglocke erklingt – komisch, an die kann ich mich von früher her gar nicht erinnern – und zwei weitere Gäste, ein Mann und eine Frau, betreten das Gnosa. Im ersten Moment halte ich sie für meine Eltern, dann klärt sich mein Blick, und ich sehe, es handelt sich bloß um einen Schwulen und seine Gabi. Es dauert ein wenig, bis sich die Aufregung wieder gelegt hat, danach fallen Raum und Zeit wieder in ihre dämmrige Trägheit zurück, die so sehr den Verhältnissen in meinem dumpfen Schädel entspricht. Es ist, als hätte ganz Hamburg letzte Nacht ebenfalls durchgemacht und käme jetzt, auf der Suche nach einem späten Katerfrühstück, nur schwer wieder in die Gänge. Um meinem Kellner eine Freude zu machen, bestelle ich noch eine zweite Tasse Kaffee, die er mir auch sogleich, zusammen mit einem Glas Wasser und seinem geflöteten »Bitte sehr« bringt.
    »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?«, fragt er.
    »Nein, danke.«
    »Sie sehen etwas blass aus – wenn ich das sagen darf.«
    »Mir fehlt nichts, danke.«
    »Entschuldigung. Ich wollte nicht …«
    »Danke. Alles in Ordnung.« Und endlich verschwindet mein Fan wieder.
    Nach einer zunehmend bleiernen Woche riefen mich meine Eltern zurück zu sich an den Küchentisch, wo sie einträchtig nebeneinander im Schein der Küchenlampe saßen und mir einen Stuhl ihnen gegenüber zuwiesen. Wieder war keins meiner Geschwister im Haus, meine Schwester, damals elf, hatte Handballtraining, meine Brüder, knapp neunzehn beziehungsweise achtzehn Jahre alt, waren mit Freunden in die Stadt ins Kino gefahren. Papa hatte ihnen tatsächlich sein Auto geliehen. Und spätestens das ließ mich so stutzig werden, es sah alles plötzlich so arrangiert aus, als wäre ich unversehens in einen Geheimprozess geraten, in dem ich der Delinquent war und meine Eltern Richter und Henker in einer Person. Was war hier in den vergangenen sieben Tagen hinter den Kulissen wirklich alles abgelaufen? Warum hatte ich davon scheinbar so gar nichts mitbekommen? Hatte der Umstand, dass meine Mutter tagsüber kaum zu Hause gewesen war und sich abends oft zum Lesen, wie sie sagte, ins Elternschlafzimmer zurückgezogen hatte, doch etwas mit meinem Coming-out zu tun? Sie las mitunter tatsächlich lieber ein Buch, als mit uns allen vor der Glotze zu hocken.
    Meine Mutter führte die Verhandlung, mein lieber Herr Papa saß nur schweigend wie ein zorniger Götze daneben und ließ dem Geschehen seinen Lauf. Er würdigte mich kaum eines Blickes, und noch heute bekomme ich Würgeanfälle von dem Gefühl, dass er sich damals einfach nur schämte, für mich, für sich, für die ganze unwürdige Situation, in die ich ihn ja unbedingt hatte bringen müssen, ihn und die ganze Familie. Mama zauberte derweil ein paar Blätter Papier aus ihrem Schoß hervor, bisher sorgsam von der Tischdecke aus pflegeleichtem Wachstuch und ihrer Sitzposition ganz nah an der Tischkante verborgen. Auf den Zetteln standen Stichwörter und Satzfragmente, einige davon waren unterstrichen oder sogar rot umrandet. Sie hatte sich Notizen gemacht! Sie hatte sich allen Ernstes Notizen gemacht! Sie hatte recherchiert? Deswegen? Wegen meines Schwulseins? Ich bekam plötzlich wackelige Knie und sank auf den mir zugedachten Stuhl gegenüber ihrem Tribunal. Meine Mutter war eine gründliche Frau, das wusste ich, sie hielt das Haus penibel sauber und kochte, dass es immer genau so schmeckte, wie man es von dem Gericht erwartete. Und früher einmal muss sie eine äußerst gewissenhafte Buchhalterin gewesen sein, denn schon des Öfteren hatte sie nicht ohne Stolz erzählt, wie ungern sie ihr Chef damals, nach kaum absolvierter Lehre, in die Mutterschaft und das Hausfrauendasein hatte ziehen lassen. Zum ersten Mal erkannte ich, zu welch systematischem Vorgehen sie fähig war, ahnte ich, ein wie scharfes Messer Akkuratesse sein kann, und bekam es mit der Angst zu tun.
    »Wollt ihr nicht lieber vorher noch die Jalousie runterlassen, damit uns auch ja niemand sieht?«, frotzelte ich mit einem Kopfnicken in Richtung des Küchenfensters, durch das man Vorgärten, eine Straße, Häuser, einen Nachbarn beim Rasenmähen im spätsommerlichen Abendlicht sehen konnte. Ich wollte irgendwie der aufkeimenden Kläglichkeit in mir Herr werden, doch sie hatte mich schon zu fest im Griff. Und trotzdem, obwohl oder gerade weil meinem Spruch aller beißender Sarkasmus abgegangen war, schien

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