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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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tue öffentlich Buße; nur in meinem Kopf, da laufe ich Amok.
    So läuft es immer, seit meiner frühesten Kindheit. Ich war ein eifersüchtiges Kind, das allen anderen neidete, was sie hatten, besonders meinen beiden älteren Brüdern. Ich wollte nie begreifen, warum sie schon gewisse Dinge durften, die mir noch verboten waren, und ihr Alter konnte ich natürlich nicht als überzeugende Erklärung gelten lassen. Natürliche Gegebenheiten als Ursache für Ungleichbehandlung anzuerkennen, hieße und heißt doch nichts anderes, als sich fatalistisch dem Schicksal zu beugen. Das geht doch nicht – und geht doch sehr gut, denn Typen mit Brille, Bart und Bauch haben bei mir kaum eine Chance zu landen, und wenn mir ein Schwanz zu klein ist, lasse ich den Kerl auch eher mal stehen und such mir was Passenderes! Also protestierte ich auf meine Weise gegen diese Ungerechtigkeit und nahm mir einfach, was ich wollte. Wenn dann meine Brüder oder Eltern einschritten, schrie ich Zeter und Mordio, bis ich entweder wirklich bekam, was ich wollte, was oft der Fall war, oder so lange in meinem Zimmer eingesperrt wurde, bis ich mich ausgetobt hatte, was noch häufiger vorkam. Nur geredet wurde über diese Anfälle und Ausbrüche nie, höchstens geschimpft. Für meine Eltern, für meinen Vater mehr als für meine Mutter, war ich von Anfang an nur der Störenfried oder die Nervensäge und einmal sogar das widerliche Balg. Da hatte ich einem meiner Brüder einen Stein an den Kopf geworfen, weil er mich nicht mit seinem Trecker im Sand hatte spielen lassen wollen. Während Mama die unbedeutende Wunde ihres heulenden Zweitgeborenen verarztete, dessen Bruder aus Solidarität mitheulte, und unsere kleine Schwester, damals gerade erst ein paar jämmerliche Monate alt, heulte sowieso bei jeder sich bietenden Gelegenheit – ich bin ein großer Anhänger der chinesischen Ein-Kind-Politik –, bekam ich von Papa eine ordentliche Backpfeife versetzt. Zuerst wurde ich am Ohrläppchen, dann am Kragen gepackt und, brüllend wie am Spieß, in mein Zimmer geschleift. »Da bleibst du, bist du begriffen hast, dass man so was nicht macht«, rief er und verriegelte die Tür. Ich war fünf Jahre alt und blieb ziemlich lange in meinem Zimmer. Als ich wieder rauskam, verprügelten mich meine beiden Brüder, sie mussten schließlich zeigen, dass sie noch mehr Herr im Haus waren als ich. Sie schlugen mir zwei Milchzähne aus, okay, die hatten sowieso schon gewackelt, aber sie lagen anschließend auf dem Boden, und meine Brüder wurden dafür nicht nur gehörig bestraft, auch die ganze Heulerei ging wieder von vorn los und in den Gesichtern meiner Eltern stand nichts mehr als die Reue über ihre misslungenen Fortpflanzungsversuche.
    Ich denke oft an diese und andere Kindheitseskapaden, sie kommen mir eigentlich immer in den Sinn, wenn ich den Impuls verspüre, jemanden ans Leder gehen zu wollen, wenn ich mich ungerecht behandelt fühle. Manchmal träume ich sogar davon, träume ich von Rache, und dabei presse ich die Kiefer zusammen und mahle mit den Zähnen, dass das widerlichste Knirschgeräusch entsteht. Klaus, der es so oft wie kein anderer gehört hat, meinte, es hätte ihm jedes Mal eine Gänsehaut verursacht, so unheimlich sei es gewesen, so voller unterdrückter Gewalt. Aber ich wollte nie darüber reden, gab vor, mich an keine Träume und Gewaltfantasien erinnern zu können, ich rieb mir nur den schmerzenden Kiefer morgens am Frühstückstisch. Es ist natürlich gelogen, ich kann mich an jeden einzelnen dieser Träume erinnern, als handele es sich um einen Film, den ich gerade erst im Kino gesehen habe und der mich schwer beeindruckt hat – ich male meine Albträume. Das ist meine Art, mit dieser ewigen inneren Unruhe fertigzuwerden, sie zu bannen, aus mir herauszuholen und an einem von mir getrennt existierenden Ort wegzusperren. Damit verdiene ich mein Geld, damit bin ich zu einem Weltstar geworden. Und die Quelle ist unerschöpflich, jede Nacht liefert Vorlagen für ganze Bilderserien.
    So wäre es auch gestern gewesen, wenn ich den Schlaf nicht lieber geflohen wäre, wenn ich mir nicht auf die eine andere Art ›Inspiration‹ geholt hätte, die mir bekannt ist. Diese andere, böse Art und schmutzige Angewohnheit: der Sprung in den Abgrund.
    Heute Morgen, nach kaum zwei Stunden Schlaf, der eher Ausdruck alkoholischer Betäubung gewesen ist als alles andere, bin ich aufgewacht und habe ich mich einfach nur noch elend gefühlt. Ich stank nach Bier,

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