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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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sagte Andras. »Was ist das?«
    »Sieh doch nach«, sagte sie.
    »Ich weiß nicht, ob ich mich traue.«
    »Trau dich.«
    Er hob das Laken an einer Ecke an und zog es beiseite. Zum Vorschein kam ein handgefertigter Zeichentisch, so schön und fachmännisch wie der von Pierre Vago. Er hatte eine zum Fenster geneigte Zeichenfläche aus poliertem Holz und ein Stahlgestell, in das der Name eines berühmten Kunsttischlers geprägt war. An der Unterkante der Zeichenfläche war eine perfekte Rille für Stifte, an der rechten Seite ein tiefes Tintenfass eingelassen. Ein Zeichenhocker stand unter dem Tisch, Sitzfläche und Messingräder glänzten. Andras’ Hals zog sich zusammen.
    »Er gefällt dir nicht«, sagte Klara.
    Andras wartete, bis er wusste, dass er sprechen konnte. »Er ist zu gut«, sagte er. »Das ist ein Tisch für einen Architekten. Nicht für einen Studenten.«
    »Er wird dir noch gehören, wenn du Architekt bist. Aber ich wollte, dass du ihn jetzt schon bekommst.«
    »Heb ihn für mich auf«, sagte Andras. Er drehte sich zu Klara um und legte ihr eine Hand auf die Wange. »Wenn du der Meinung bist, dass wir zusammenbleiben, nehme ich ihn mit nach Hause.«
    Die Farbe wich aus ihren Lippen, sie schloss die Augen. »Bitte«, sagte sie. »Ich möchte, dass du dein Geschenk annimmst. Man kann ihn auseinanderbauen. Leg ihn ins Auto.«
    »Ich kann nicht«, sagte er. »Nicht jetzt.«
    »Bitte, Andras!«
    »Heb ihn für mich auf! Wenn du gründlich nachgedacht hast, gib mir Bescheid, ob ich ihn nehmen soll oder nicht. Aber ich nehme ihn nicht als Erinnerung an dich. Verstehst du das? Ich möchte nicht den Tisch statt deiner.«
    Sie nickte, die grauen Augen gesenkt.
    »Das ist das schönste Geschenk, das ich je bekommen habe«, sagte er.
    Und damit war ihr Urlaub zu Ende. Ein erster Hauch von Herbst lag über der Stadt. Andras spürte es, als er zu Fuß über den Pont Marie nach Hause ging, in der Hand die Tasche mit der Kleidung für zwölf Tage. Der September schickte seine ersten kühlen Fähnchen nach Paris hinein, seine feurigen roten Farben. Sein Geruch wehte über den Schlauch der Seine wie das Parfüm eines Mädchens vor der Tür zum Ballsaal. Ihr Fuß im Satinschuh hatte die Schwelle noch nicht überschritten, aber jeder wusste, dass sie da war. Jeden Moment würde sie eintreten. Ganz Paris schien den Atem anzuhalten und zu warten.

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    17.
Synagogue de la Victoire
    ANDRAS HÄTTE ALLES DAFÜR GEGEBEN, Rosch ha-Schana in diesem Jahr in Konyár zu feiern – mit seinem Vater und Mátyás in die Synagoge zu gehen, am Tisch seiner Mutter Honigbrot zu essen, im Obstgarten zu stehen und eine Hand auf den Stamm seines Lieblingsapfelbaums zu legen, dessen Krone ihm immer Zuflucht geboten hatte, wenn er verängstigt, einsam oder traurig gewesen war. Stattdessen fand er sich zum Ende seines ersten Jahres in Paris in seiner Dachkammer auf der Rue des Écoles wieder, wo er auf Polaner wartete, damit sie zusammen zur Synagoge auf der Rue de la Victoire gehen konnten. Vier Wochen waren vergangen, seit er zum letzten Mal mit Klara gesprochen hatte. Und während sich das jüdische Jahr dem Ende zuneigte, schien ganz Europa an einem seidenen Faden über dem Abgrund zu hängen. Kaum war Andras nach dem Urlaub wieder zur Besinnung gekommen, kaum hatte er die auf ihn wartenden Briefe gelesen und sich durch den üblichen Stapel von Zeitungen gearbeitet, war er daran erinnert worden, dass in Europa Schlimmeres vorging als die Weigerung von Klara Morgenstern, die großen Geheimnisse ihrer Vergangenheit zu enthüllen. Im vergangenen Frühjahr hatte Hitler den Versailler Vertrag mit dem Anschluss Österreichs verhöhnt, jetzt verlangte er das tschechoslowakische Grenzgebirge, den Bergwall des Sudentenlandes mit seinen militärischen Festungen, seinen Waffenschmieden, Textilfabriken und Bergwerken. Was hältst du von der neuesten fixen Idee des Reichskanzlers? , hatte Tibor aus Modena geschrieben. Bildet er sich wirklich ein, dass Großbritannien und Frankreich untätig zusehen, während er die letzte Demokratie Mitteleuropas vernichtet? Es wäre das Ende der freien Tschechoslowakei, so viel steht fest.
    Von Mátyás kam ein empörtes Schreiben, der Protest eines Schülers gegen Hitlers geografischen Revisionismus: Wie kann er die »Rückkehr« des Sudetenlandes fordern, wenn es nie zu Deutschland gehört hat? Wen glaubt er damit in die Irre führen zu können? Jeder Zweitklässler weiß, dass die Tschechoslowakei vor dem

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