Die vergessene Frau
flüsterte sie Jamie, dem Bandleader, zu. »Ich weiß ehrlich nicht, was gerade passiert ist.«
Jamie meinte, sie solle nicht nervös werden, und begann noch mal von vorn. Diesmal kam Frannys Einsatz zum richtigen Zeitpunkt, doch gleich darauf gingen die Nerven mit ihr durch, und in der dritten Zeile begann ihre Stimme zu beben. Sie sah, wie die Zuhörer das Gesicht verzogen, als sie den Ton nicht traf. Sie verstummte wieder. Nacheinander klangen die Instrumente aus.
Im Zuhörerraum blieb es totenstill. Franny wäre am liebsten von der Bühne geflohen. Es war grauenvoll. Ihr schlimmster Albtraum war wahr geworden. Aber wenn sie jetzt flüchtete, würde sie nie wieder eine derartige Gelegenheit bekommen. Also zwang sie sich, Jamie zu fragen, ob sie einen allerletzten Versuch wagen durfte.
Normalerweise hätte sich der Bandleader geweigert: Wenn jemand gleich zweimal beim Vorsingen patzte, war das kein gutes Omen für einen abendlichen Auftritt. Allerdings mochte er Franny und wusste, wie sehr sie sich diese Möglichkeit gewünscht hatte, und so hatte er das Gefühl, ihr wenigstens eine letzte Chance geben zu müssen.
»Na schön«, antwortete er widerstrebend. »Aber dann ist Schluss.«
Er drehte sich wieder zur Band, doch bevor er das Stück anzählen konnte, sagte Franny: »Ich glaube, ich möchte es diesmal ohne Begleitung probieren.« Sie lächelte schüchtern. »Vielleicht hilft das ja.«
Weil sie wusste, dass dies ihre allerletzte Chance war, hatte Franny beschlossen, es nicht wieder mit Copacabana zu probieren: Es wäre zu demoralisierend, noch einmal von vorn zu beginnen, und sie war nicht in der Stimmung für ein so fröhliches Stück. Stattdessen wollte sie ein Lied vortragen, das ihr aus dem Herzen sprach, das ihr etwas bedeutete. Sie schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, wie sehr sie diesen Moment ersehnt hatte. Im Publikum räusperte sich jemand ungeduldig, aber Franny hörte nichts mehr. Plötzlich überkam sie eine nie gekannte innere Ruhe, und dann begann sie – ohne jede Begleitung – die tragische Geschichte von Molly Bán zu singen:
Come all ye young fellas
That handle a gun
Beware of night rambling
By the setting of the sun
And beware of an accident
That happened of late
To young Molly Bán
And sad was her fate.
Es war eine uralte irische Ballade, die sie unzählige Male bei den wöchentlichen Ceilis zu Hause gesungen hatte und die ihr so vertraut war wie der eigene Atem. Das anrührende Klagelied erzählte von einem jungen Mann, der auf die Jagd ging und dabei versehentlich sein Liebchen erschoss, das im Wald Schutz vor dem Regen gesucht hatte. Der Text traf Frannys Stimmung genau. Sie legte ihre ganze Reue, ihre ganze Enttäuschung in dieses Lied, sie machte der Trauer über die Fehler, die sie begangen hatte, Luft; dem Heimweh nach der Familie, aus der sie ausgestoßen worden war, und dem Bedauern über ihre jugendliche Torheit.
She was going to her uncle’s
When a shower came on
She went under a green bush
The shower to shun
Her white apron wrapped around her
He took her for a swan
But a hush and a sigh
It was his own Molly Bán.
Jamie und der Bühnenmanager Callum warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Genau so jemanden hatten sie gesucht. Frannys Stimme schwebte engelsgleich durch den Saal, und wenn sie die Töne auch nicht immer perfekt traf, so tat das nichts zur Sache: Ihre Darbietung wirkte so rein und aufrichtig, dass niemand, der ihr zusah, sich ihrem Bann entziehen konnte. Franny war mehr als nur eine weitere Sängerin – sie war eine wahre Künstlerin, sie war jemand, der neues Publikum anlocken konnte.
»Mein Gott, du bist ein stilles Wasser«, bemerkte Jamie später.
Franny lachte. Sie war viel zu begeistert, als dass sie antworten konnte. Mit ihrem Lied hatte sie so tiefen Eindruck gemacht, dass ihr der Manager jeden Dienstag- und Mittwochabend um halb acht einen zwanzigminütigen Auftritt zugesichert hatte. Es war ein bescheidener Anfang: das Gegenstück zur Nachtschicht, das Vorprogramm, bei dem allmählich die Gäste eintrudelten. Aber es war ein Anfang.
Kapitel 6
Whitechapel, London, 1954
»Feiges Huhn!« Olly Gold gackerte wie eine Henne, um seine Beleidigung zu unterstreichen. Die anderen Jungen stimmten lachend mit ein und spreizten die wackelnden Ellbogen ab, um kleine Flügel zu imitieren. »Gack-gack-gack! Feiges Huhn!«
Farbe schoss in Caras Wangen. »Gar nicht!«, wehrte sie sich und versuchte nicht zu zeigen, wie sehr sie sich
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